Von Barbara Roelli — Was wäre, wenn wir eines Tages nichts mehr einzukaufen hätten? Wir würden in der Migros stehen und die Regale wären leer. An der Frischfleischtheke im Coop bekämen wir statt einem frischen Kotelett nur den ratlosen Blick vom Verkäufer. Wie würde es in den Grossverteilern wohl aussehen ohne all die Lebensmittel in den Regalen, den Kühlschränken, den Kühltruhen, den Gemüseauslagen und Vitrinen? All die Behälter wären leer, es schiene rätselhaft, zu welchem Zweck sie überhaupt da sind. Die Gänge zwischen den Regalen würden an Strassenschluchten erinnern, in denen man die eigenen Schritte hallen hörte. Und wäre man still, würde man nur das feine Summen der Neonröhrenbeleuchtung vernehmen.
Dieses Szenario male ich mir aus, als ich Richtung Quartierladen gehe. Ich betrete den Laden, schnappe mit einen dieser grünen Plastikkörbe und fülle ihn mit frischem Salat, Äpfeln, Milch, Käse, Teigwaren, Trockenfleisch und einem nach Butter duftenden Zopf. Was ich mir auf dem Einkaufszettel notiert habe ist alles bereit, ich brauche mich nur zu bedienen. Und wo sich die Regale langsam leeren, da ist auch schon jemand dabei, sie mit neuen Brotlaiben, Packungen mit Kaffee und Teigwaren zu füllen. Ich stelle mich an der Kasse in die Schlange und warte. Dabei hüpfen meine Augen über die Schlagzeilen der Zeitungen: «Japaner stürmen Supermärkte», «Hamsterkäufe in Japan: Regale in Tokio sind leer», «Japans Supermärkte fürchten um Nachschub». So lesen sich die Auswirkungen, die das Erdbeben vom 11. März auf Japans Bevölkerung hat. Mit einer Stärke von 9,0 löste das Erdbeben einen Tsunami aus, der den Inselstaat mit gewaltigen Wellen überschwemmte. Nicht verschont davon wurde das Atomkraftwerk Fukushima: Reaktoren des Kraftwerkes wurden beschädigt und so konnten radioaktive Strahlen austreten. Wie Medien berichten, gibt es für die Japaner verschiedene Gründe, warum sie sich vorsorglich mit Lebensmitteln eindecken: Mit dem Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami wurden wichtige Transportwege für Lebensmittel gekappt. Und mit dem beschädigten Atomkraftwerk Fukushima wächst die Angst vor verstrahlten Lebensmitteln.
Ich bin immer noch im Quartierladen. Noch ein Kunde steht vor mir, dann bin ich an der Reihe. Was also wäre, wenn es die Schweiz treffen würde? Die Schweiz liege zwar im Gegensatz zu Japan nicht in einem Erdbebengebiet, sagen Experten. Und einen Tsunami bräuchten wir auch nicht zu fürchten. Doch es könnte ja eine andere Katastrophe sein, die uns hierzulande treffen könnte und die Häuser, Bahnlinien und Strassen zerstören würde. Der Bundesrat würde die Bevölkerung beruhigen und bestimmte Sofortmassnahmen treffen, um die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser zu gewährleisten. Das Bedürfnis nach dem sicheren Gefühl, für den Notfall gerüstet zu sein, würde viele Leute in die Läden treiben. Man würde sich mit lange haltbaren Esswaren und Trinkwasser eindecken. Würden wir soweit gehen und uns das Brot aus den Fingern reissen, wenn es plötzlich eng wäre mit der Versorgung? Vielleicht würden wir uns dann wieder auf unsere Urinstinkte als Jäger und Sammler besinnen; in den Wäldern auf Wild schiessen und nach Beeren und Pilzen suchen. Vorausgesetzt, unsere AKWs wären durch die Katastrophe nicht beschädigt worden und hätten das Land bereits radioaktiv verstrahlt.
Nun bin ich an der Reihe. Während die Kassiererin meine Einkäufe einscannt, schaue ich nochmals hinter mich zu den noch gefüllten Regalen.
Foto: Barbara Roelli
ensuite, April 2011