Von Hannes Liechti — In der Serie «Musik für» werden jeweils eine oder mehrere Persönlichkeiten aus dem Berner Kulturleben mit einer ausgewählten Playlist konfrontiert. Diesen Monat trifft es den Berner Solo-Kontrabassisten Mich Gerber.
Mich Gerber? Ja, das ist der Mann mit dem Streichinstrument. Nein, nicht mit dem Cello, sondern mit dem Kontrabass. Der Berner Musiker, der bereits mit der britischen Sängerin Imogen Heap oder der Bernerin Jaël von Lunik zusammengearbeitet hat, führt schon seit fünf Jahren spezielle Konzerte auf und an verschiedenen Schweizer Gewässern durch. Unter dem Motto «L’heure bleue – Mich Gerber bespielt die blaue Stunde» wagt er sich seit 2007 jeden Sommer aufs Wasser hinaus. Was ihm das Element bedeutet, verrät Gerber in einer ausgesprochen nassen Playlist.
Franz Schubert
«Auf dem Wasser zu singen» D.774 (1823)
Ulrich Eisenlohr & Wolfgang Holzmair
(Naxos, 2005)
Das ist Schubert, oder? Einer der ganz grossen Harmoniker. Schubert-Harmonien sind eine Welt für sich. Ich liebe Schubert. Vor allem die Streichquartette: In den vier Stimmen kommt seine Harmonik am besten zur Geltung. Ich kenne dieses Lied nicht, aber es ist wunderschön. Besonders der Text gefällt mir: Romantik pur!
Er stammt von Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg. Ich erlaube mir, die erste Strophe zu zitieren:
Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen
Gleitet, wie Schwäne, der wankende Kahn:
Ach, auf der Freude sanftschimmernden Wellen
Gleitet die Seele dahin wie der Kahn;
Denn von dem Himmel herab auf die Wellen
Tanzet das Abendrot rund um den Kahn.
Du singst selber zwar nicht auf dem Wasser, spielst an deinen Konzerten zur blauen Stunde aber auf einer Fähre auf der Aare Kontrabass. Diese Zeilen scheinen exakt die Atmosphäre dieser Konzerte wiederzugeben. Was ist die blaue Stunde genau und was macht sie so besonders?
Ja tatsächlich, der Text besingt genau mein Setting auf der Fähre! Die blaue Stunde ist die Zeit der Dämmerung nach dem Sonnenuntergang. Wenn die Sonne untergegangen ist, aber noch in die Stratosphäre hinein leuchtet, gibt es eine Art Reflexion, die alles wie durch einen Blaufilter gesehen erscheinen lässt. Das ist wie ein Nachglühen des Tages, obwohl es bereits Nacht ist. Diese Zeit des Übergangs finde ich total spannend. Auch die Fähre symbolisiert ja einen solchen Übergang, der zudem mythologisch behaftet ist. Denken wir nur einmal an die Fähre in der Schlussszene von «Herr der Ringe» oder an Charon, den Fährmann der griechischen Mythologie, der in das Reich der Toten führt…
Ähnlich wie es bei Schubert in der letzten Strophe heisst, «selber entschwinde der wechselnden Zeit», stellt die Fähre also den Übergang vom Leben in den Tod dar?
Ja, aber nicht nur: Sie symbolisiert ganz grundsätzlich den Übergang auf eine andere Seite. Das hat etwas sehr Poetisches an sich.
Ein in Schuberts Werk zentrales Motiv ist der Wanderer. Auch du hast dieses Motiv im Albumtitel deiner letzten CD aufgenommen: «Wanderer» (2008). Verstehst du dich auch als Wanderer?
Bereits im Mittelalter war der Wanderer derjenige, der nicht sesshaft ist. Derjenige, der immerzu an einen anderen Ort geht. Das Wort «wanderer» existiert auch im Englischen. Da ist aber nicht der Wandervogel in den roten Socken gemeint, sondern im übertragenen Sinne der unruhige Geist, der immerzu Neues erfahren will. So betrachte ich mich selbst auch.
Simon & Garfunkel
«Bridge Over Troubled Water»
ab dem Album «Bridge Over Troubled Water» (Sony Music Entertainment, 1970)
Ist das die Originalversion mit dem Solo-Piano?
Ja, die Band kommt erst im letzten Part des Stücks hinzu.
Diese Version gefällt mir sehr gut. Das erinnert mich an meine Jugendzeit in den 70er-Jahren, ich bin eben schon so alt. (lacht)
In diesem Song treten im Zusammenhang mit dem Wasser zwei Symbole auf: Die Brücke und das unruhige Wasser. Welche Bedeutung hat das Wasser für dich?
Zuerst einmal ist das Wasser schlicht lebensnotwendig. Dann staune ich immer wieder, was es für eine unbändige Kraft hat. Gerade erst war Hochwasser in Bern. Da kommen 450 Kubikmeter pro Sekunde – das sind 450 Tonnen! – den Fluss herunter. Ausserdem bin ich Segler und habe grossen Respekt vor Wellen und starkem Wind. Da musst du gut schauen, dass du heil zurückkommst. Und dann aber wieder das pure Gegenteil, wenn gar kein Wind ist: Da ist der See spiegelglatt. Diese Kräfte und Gegensätze faszinieren mich.
Nadja Zela
«Cold Cold Rain»
ab dem Album «Wrong Side Of Town»
(Patient Records, 2012)
Zuerst habe ich gedacht, das sei Tom Waits. Aber dann ist die falsche Stimme dazugekommen. Wer ist das?
Das ist Nadja Zela, eine Sängerin und Songwriterin aus Zürich, die Anfang Jahr mit «Wrong Side Of Town» ein grandioses Blues-Album vorgelegt hat.
Toller Sound. Dieser Tom Waits-Groove gefällt mir unglaublich gut. Die Gitarre klingt ein bisschen nach Marc Ribot, der viel mit Waits zusammengearbeitet hat. Du merkst, ich bin ein grosser Waits-Fan.
Kehren wir zum Wasser zurück. Es ist in «Cold Cold Rain» wie im Blues überhaupt in der Form des Regens beinahe omnipräsent. Wie ist dein Verhältnis zum Regen? Bei schlechter Witterung finden die Konzerte auf der Aare ja nicht statt…
Leider! An mir solls nicht liegen, ich würde es schon machen. (lacht) Aber es geht einfach nicht, und es kommt auch niemand. Persönlich liebe ich Regen oder Gewitter. Das sind tolle Naturschauspiele. An einem Regentag kann ich nicht zuhause sitzen bleiben und mich vergraulen lassen. Da gehe ich lieber nach draussen: die Farben sind viel intensiver und die Bäume leuchten. Ich habe überhaupt keinen Regenblues.
Und wie hast du es mit dem Blues an sich?
Ich mag Blues sehr gerne, vor allem wenn er so toll ist wie in diesem Beispiel. Blues ist ja auch blau: Die Blue-Note ist die vertiefte, etwas heruntergerissene Terz.
Brauchst du die Blue-Note an deinen Konzerten in den blauen Stunden häufiger?
Ich färbe die Töne oft. Es muss aber nicht unbedingt die Terz sein, es kann auch ein anderer Leitton sein, den ich manchmal ein bisschen zu tief oder zu hoch spiele. Das verleiht der Melodie eine enorme Spannung.
Baka Forest People Of Southeast Cameroon
«Water Drums 1» ab dem Album «Heart of the Forest» (Rykodisc, 1993)
Wasser wird auch als Instrument benutzt. Im afrikanischen und ozeanischen Raum ist die Praxis des Wassertrommelns verbreitet, wie in diesem Beispiel bei einem Stamm aus Südostkamerun.
Das klingt fantastisch! (Trommelt den Rhythmus mit den Fingern auf dem Tisch mit) Ein genialer Klang, der hier entsteht, und das nur durch das Klatschen der Handflächen auf der Wasseroberfläche. Das hohe Rauschen des Wassers klingt wie das Snare und gleichzeitig entstehen sogar Basstöne.
Du bist auf der Suche nach neuen Klängen um die Welt gereist und hast dich von ganz unterschiedlichen Kulturen inspirieren lassen. Was hat dich dabei beeindruckt?
Die Vielfalt. Alle Leute haben eine eigene Musik, die sie praktizieren. Zum Teil ergeben sich so spannende Parallelen: Dinge, die in einem Land gespielt werden und auf der anderen Seite der Welt ähnlich sind. Ich glaube, die meisten Völker definieren sich über eine Musik, das hat etwas mit Identität zu tun. Diesen Reichtum müssen wir unbedingt pflegen und bewahren. Ich finde es schade, dass mit der weltumspannenden Popkultur eine riesige Glocke über diese Vielfalt gestülpt wird.
Aare
«Rauschen der Steine unter Wasser»
Field Recording
Diesen Klang hört man beim Baden, wenn man den Kopf unter Wasser hält: das Rauschen und Knistern der Kieselsteine, die in ständiger Bewegung sind.
Du spielst deine Konzerte an ganz unterschiedlichen Orten, unter anderem auch am Brienzer- oder Bodensee. Hat die Aare ihren eigenen Sound?
Ja, auf jeden Fall. Die Aare ist ein Fluss. Sonst spiele ich meist an oder auf Seen. Für einen Fluss ist die Aare ziemlich schnell – der Rhein ist beispielsweise viel langsamer. Das hohe Tempo verleiht der Aare eine gewisse Unruhe, sie ist sehr lebendig und keineswegs ein stilles Wasser. Der Sound ist nicht laut, aber stetig: ein sehr vielschichtiges Rauschen und Plätschern. Man nimmt die dauernde Kraft des Wassers nicht nur akustisch, sondern auch physisch wahr: Wenn man am Abend an der Aare ist und keine Umweltgeräusche mehr zu hören sind, spürt man, dass da ein Strom ist. Auch wenn man ihn weder hört noch sieht.
Mich Gerber
«Delta»
ab dem Album «Amor Fati»
(Weltrekords, 2000)
Ja, das ist natürlich ein Wassersong. Als ich das Stück geschrieben habe, dachte ich an ein grosses Gewässer. Der Song heisst ja «Delta». Es geht also um einen Fluss, der in einer Bahn festgehalten wird und dann in das grosse, offene Wasser hinaus strömt. Diese Geste des In-die-Weite-gehens hatte ich damals im Kopf.
In diesem Schlussstück deines zweiten Albums «Amor Fati» hört man als Begleitung Wellenrauschen. Was ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Kontrabass und Wasser?
Das Wasser ist eine Art konstanter Grundton. Ähnlich wie es in der indischen Musik einen solchen gibt. An den Konzerten zur blauen Stunde hört man die Aare auch andauernd. Ich mag das total gerne. Und da der Ton keine präzise Tonhöhe hat, passen alle Tonarten dazu.
Was sind die Schwierigkeiten und Herausforderungen beim Spiel auf dem Wasser?
Rein technisch gesehen ist die Herausforderung, dass es nie ruhig ist. Die Fähre bewegt sich stetig, sie ist nie stabil; genau wie bei Schubert vom «wankenden Kahn» die Rede ist.
Dein letztes Album ist bereits vier Jahre alt. In welche Richtung entwickelt sich dein Sound?
Im Moment geht es in zwei ganz unterschiedliche Richtungen: in eine ruhige und in eine groovige und rockige. Mir gefallen beide sehr gut. Wo das am Ende hin zielt, weiss ich noch nicht. Auf der Aare ist es der Situation entsprechend eher die ruhige Seite, die zum Tragen kommt. Zurzeit bin ich aber auch mit einer schrägen Zirkustruppe, dem Cirque de Loin, unterwegs. Dort sind elektrische Gitarre und Schlagzeug dabei und es wird ziemlich groovig.
Richtung Tom Waits also?
Ja, sozusagen. (lacht)
Wird das Wasser auf deiner nächsten CD wieder eine Rolle spielen?
Ja, ich denke es. Ich bin leidenschaftlicher Segler und bin oft auf dem See bei Wind und Wasser. Wie die Musik ist auch das Wasser ein Lebenselixier von mir. Musik und Wasser geht bei mir immer zusammen.
Foto: zVg.
ensuite, August 2012