Von Fabienne Naegeli – Eindrücke vom 34. Zürcher Theater Spektake: Ausgerüstet mit einer Regenpelerine, Ohropax und dem Hinweiszettel, dass einem die Mitarbeiter zu Hilfe kommen, falls man die Performance vorzeitig verlassen möchte, betritt man den mit Plastikfolie ausgekleideten Raum. Ms Berserker ATTTTTACKS!! Electro*Shock*Luv*Luv*Luv Shout!!!!! Mit hochgezogener Kapuze – dem beharrlichen Moderator sei dank! – und dem Wissen, dass keinerlei Verantwortung für nasse Gegenstände übernommen wird, stürzen auf einen Pfiff rund 20 JapanerInnen der Performancegruppe «Miss Revolutionary Idol Berserker» in bunten Schuluniformen auf die Bühne, breiten allerlei mitgebrachte Requisiten aus, begrüßen das Publikum frenetisch und stellen sich mit viel Geschrei vor. Als der Countdown auf dem Videoscreen runtergezählt ist, fliegen zu ohrenbetäubender japanischer Popmusik glitzernde Papierschnipsel, Reis, Frischkäse, Plastikbälle, Leuchtstäbe, Kostümteile und aufblasbare Plastiktiere ins Publikum – die man teils wieder zurückwirft –, Wasser wird gespuckt sowie mit Eimern und einem Gartenschlauch von allen Seiten in die Zuschauerreihen gespritzt. Auf die chaotische Wurfattacke folgt eine höchst präzise Gruppen-Tanz-Choreografie wie man sie von Teenie-Konzerten mit Boy- oder Girlgroups kennt. Das mechanisch und synchron ausgeführte Bewegungsrepertoire dieser Massenchoreografien wechselt mit wilden, unstrukturiert wirkenden Übergriffen auf das überforderte Publikum. Dieses reagierte nur zögerlich auf die fremdsprachigen, akustisch schwer verständlichen Anweisungen und die im Zuschauerraum herumkletternde, das Publikum mit Plakaten animierende wie auch heftig knutschende Schar unberechenbarer PerformerInnen. Am Ende wateten jedoch alle ZuschauerInnen auf Befehl zur Bühne und wurden dort ausgestellt und gefeiert. Die trashige Inszenierung der jungen Performancetruppe befasste sich mit den japanischen Idols, hübschen, mädchenhaften Frauen, welche die Popmusikszene dominieren und als Sinnbild japanisch-konservativer Kultur vermarktet werden. Für ihre ästhetische Kritik an der Uniformität und Hyper-Angepasstheit der JapanerInnen nutzte die Berserker-Performancegruppe Mittel der Otaku-Kultur, einer Manga- und Anime-Fanbewegung, deren AnhängerInnen sich als ihre Lieblingsfiguren verkleiden, um ihrer Individualität Ausdruck zu verleihen.
Swamp Club Nebelschwaden steigen aus der Grotte, in der ein Notausgangsschild leuchtet, und liegen wie Morgentau über dem Sumpf mit den Kunstpflanzen und ausgestopften Tieren. Wasser tröpfelt aus einer Leitung, und drei Gestalten mit Kapuzen betreten den Glaspavillon, durch dessen Fenster in der Ferne Hochhäuser zu sehen sind. In eine 3D-Animation des Areals werden Musiker gesetzt. Kurz darauf kommt das Zürcher Belenus Quartett live hinzu und beginnt, den ersten Satz von Schostakowitschs regimekritischem Werk, dem Streichquartett Nr. 8 in c‑Moll op. 110 zu spielen. Über eine LED-Anzeige flackern Teile von Richard Dehmels «Märchen vom Maulwurf», und das Leuchtband über dem Grotteneingang zeigt in einer Endlosschlaufe in verschiedenen Sprachen das Tagesprogramm des Clubs. Hayden, Schubert und Mendelssohn werden zu hören sein, eine Performance um das albtraumhafte Gemälde «Patientia» von Pieter Bruegel wird dargeboten; des Weiteren gibt es Diskussionstreffs, eine Gedichtlesung sowie einen Filmzyklus über «Kino und Widerstand». Mit Rucksack und Koffern bepackt treffen drei internationale Gäste in der Aussteiger-Künstler-Residenz ein. Als Willkommensgeschenk erhalten sie Mückenspray, den WLan-Code, ein Badetuch fürs Saunieren und einen Pfeilbogen ohne Pfeil zum Fischen und Jagen. Gemächlich werden die Neuankömmlinge herumgeführt. Beim Saunagang erzählt die Polin, dass sie drei Monate nichts tun möchte, um sich vom Stress zu erholen, und der isländische Fantasy-Autor spricht über sein Recherchevorhaben in der wilden Natur. In dieser von Müßiggang, Entschleunigung und Stille geprägten Atmosphäre versucht ein riesiger Plüschmaulwurf mühevoll aus der Grotte zu klettern. Die Residenten helfen dem kranken Tier, dessen Auftauchen als Warnsignal für die Bedrohung des Sumpfes gilt, und legen es zur Erholung auf eine Liege. Mit völliger Gelassenheit, denn eine Abwehrstrategie hat man bereits, werden den Gästen die überdimensional großen Goldklumpen, die materielle Sicherheit des Clubs gezeigt, währendem bereits unheilvoll dröhnende Geräusche zu hören sind. Nachdem der vermenschlichte Maulwurf wieder bei Kräften ist, werden die Kapuzen hochgezogen, die Mini-Sprengstoff-Anlage vorgeführt, und die künstlich-dekorative Vegetation sowie die toten Tiere in den Glaskasten geräumt. Die Sumpfbewohner-Innen begeben sich mit Robin Hood, dem gegen Ungerechtigkeiten kämpfenden Helden in den Untergrund. Einzig die Fischreiher bleiben mit ihren rot blinkenden Augen wie Wächter im Sumpf stehen. Der Regisseur Philippe Quesne und sein «Vivarium Studio» erschaffen, ihrem Ensemble-Namen gemäß, einen komplett abgeschlossenen Bühnenraum mit undurchdringlicher vierter Wand, der die ZuschauerInnen zu BeobachterInnen menschlichen Tuns werden lässt. Doch das Observieren dieser humorvollen, märchenhaften Lebenssphäre, in der Zeit vollkommen irrelevant ist, dauert bekanntlich und braucht Geduld, die einige ZuschauerInnen nicht aufbringen konnten, und so tröpfelte das Publikum wie die Wasserleitung des Sumpf-Clubs aus der Werft am Zürichsee.
Foto: Christian Altorfer
ensuite, September 2013