Von Sarah Elena Schwerzmann - 1981 entwickelte und produzierte der Instrumentenhersteller Roland in Japan ein Gerät mit Namen TB 303. Dieses Gerät war ursprünglich für Gitarrenspieler konzipiert, die damit eine Bassline programmieren und sich von dieser begleiten lassen konnten. Es dauerte dann einige Zeit, genauer gesagt bis 1986, bis die Chicago House Produzenten DJ Pierre und Earl Smith als eine der ersten Produzententeams darauf kamen, die TB 303 auf eine ganz andere Art und Weise zu verwenden. Bis anhin hatte man das Gerät in der elektronischen Musik nur zur Programmierung ganz normaler Bassläufe verwendet. Nun kamen aber die zwei darauf, die oben am Gerät angebrachten Filter während des Bassline-Ablaufes zu betätigen und somit den Sound unglaublich zu verzerren. So entstanden also unmenschlich verzerrte Töne, die später den Acid als unvergleichlich kennzeichneten. Diese konnten nicht nur im 4/4 Takt verzerrt werden. Der Benutzer hatte erstmals die Möglichkeit, verschiedene Akzente auf einzelnen Noten zu setzen.
Kurze Zeit später releaste DJ Pierre in Amerika «In your mind», der erste Track, der dem Acid House zugeschrieben und von Ron Hardy, in dessen berühmtem Club Ron Hardy’s Musicbox hinauf und hinunter gespielt wurde. Und so kam der Stein ins Rollen. In ganz Chicago und Detroit setzten sich die Produzenten vor ihre TB 303-Geräte, tüftelten herum und versuchten, einen ähnlichen oder noch viel krasseren Effekt zu erzielen, als der den sie auf Ron Hardy’s Dancefloor eingetrichtert bekommen hatten. «Release your body» von M/A/R/R/S schaffte es dann sogar über den Ozean nach England, wo Baby Ford kurz danach, begeistert von diesem neuen Musikstil mit «Oochy Koochy» nachdoppelten. Produzenten wie Paul Oakenfold, der heute, gelinde gesagt poppiger Hitparadentrance auflegt, zogen sofort nach und kreierten einen regelrechten Acid-Hype.
Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Bewegung hat auch der Londoner Club «The Shoom» geleistet, der den Musikstil anfangs als einziger Club in England gespielt hat und sich somit einen Namen in der Szene gemacht hat. Doch im ganzen Tumult hatte man vergessen, diesem Musikstil, also dem Chicago House mit diesen verzerrten Tönen darüber, einen eigenen Namen zu geben. Man hatte immer nur vom «neuen Sound» gesprochen, bis 1987 DMOB einen Track mit Namen «We call it Acid» veröffentlichten. Seither, so will es der elektronische Volksmund, heisst der Sound Acid House und später, als er mehr Acid als House war, nur noch Acid. Bald schon sprach man in der elektronischen Musikszene von nichts anderem mehr.
1987 mauserte sich dann die kleine Acid-Welle zum Tsunami und bekam aus Zufall ein besonderes Markenzeichen: ein Smiley, ursprünglich das Logo des «The Shoom»-Club, stand auf einmal für einen ganzen Musikstil. Wo man hinsah, sah man Smileys. Sogar auf den LSD Trips wurden erstmals lachende Gesichter eingestampft. Und mit den Drogen kamen dann auch die ersten Probleme.
Ende der achtziger Jahre fing man an, das Ganze mehr oder weniger professionell zu vermarkten. Man organisierte riesige Acid-Partys in irgendwelchen stillgelegten Kanalisationen oder Industriehallen. Davon bekamen aber nicht nur die AcidSüchtigen sondern auch die Polizei etwas mit. Sie führten Razzien durch. Bald wurde in den Medien bekannt, dass überdurchschnittlich viel Drogen an diesen Acid Partys konsumiert wurden. Daraus resultierte, dass gewisse Radio und TV-Stationen den Musikstil boykottierten.»
«Währenddessen wurde bei Roland, überrascht vom Erfolg ihrer TB 303, weiter entwickelt und bis 1989 kamen der SH 101, die MC 202, die TR 808 und die TR 909 auf die Welt. Besonders das letztgenannte Gerät übertraf von der Härte der Bassdrums alles vorher da gewesene. Die Musik wurde also immer härter und besonders englische und amerikanische Produzenten versuchten immer mehr, auch andere Geräte in die Produktion ihrer Tracks einzubeziehen. Daraus entstand dann der so genannte Sound of Detroit, der vor allem von Mike Banks und Jeff Mills geprägt wurde und über das Label Underground Resistance lief. So wurden also im Prinzip die Grundsteine für einen neuen Musikstil gelegt: den Techno.
Und so folgte 1993 dann die Acid-Krise. Ganz Europa wurde vom Phänomen Techno in Schach gehalten. Besonders in Belgien fing man an, wie verrückt Techno zu produzieren und es wurden in unglaublich kurzer Zeit Labels aus dem Boden gestampft wo vorher gar nichts gewesen war. Erst ganze drei Jahre später hat sich der Acid dann wieder erholt und war parat, sein grosses Comeback zu geben und mit Acts wie Scooter, Dune und Prodigy erstmals die Hitparade zu stürmen.
Aufgrund der Studiound Equipmenterkenntnisse der letzten Jahre hatte man einen so grossen Schritt vorwärts gemacht, dass man nun im Stande war, die krassesten Acid-Töne zu produzieren. In Sachen Software war man so weit gekommen, dass man die Acidläufe auf dem Computer simulieren konnte, so dass sie sogar noch an Qualität gewannen. Doch auch die TB 303-Fans wurden nicht enttäuscht: Hardware Importeure hatten die TB 303 umgebaut und mit zusätzlichen Filtern ausgestattet. Ausserdem konnte man nicht mehr nur mit Sync und CV/Gate sondern auch mit Midi arbeiten. Die TB 303 war somit Studio konform. Dazu kam, dass die Produzenten sich einer uneingeschränkten Kreativität erfreuten und auf die Idee kamen, man könnte einen Gitarrenverstärker an die TB 303 anschliessen, um die Töne noch krasser zu verzerren. Darauf wäre 1987 keiner gekommen.»
Es ist Freitag, halb neun Uhr abends und mir gegenüber sitzt Philipp Frei aka DJ Dee Tree‑9 mit glänzenden Augen und erzählt von der guten alten Zeit. Schmunzelnd meint er: «Das tolle an dieser Zeit war, dass wir wirklich davon überzeugt waren, die elektronische Musik hätte ihren Zenit erlangt. Wir glaubten fest daran, dass nichts mehr kommen würde, das diesen Sound toppen könnte. Wenn ich mir heute jedoch Produktionen von damals anhöre muss ich lachen».
Philipp Frei hatte bereits zwei Jahre lang Platten gesammelt, bevor er 1993 angefangen hat aufzulegen. Aus Geldmangel konnte er sich keine professionellen Plattenspieler zulegen. Doch Philipp wusste sich zu helfen: zu Vaters Freude präparierte er dessen Plattenspieler und fing an zu üben. Bald schon organisierte er mit Kumpel Sam Lüthy alias DJ Sonic‑T erste Partys in der Linde in Belp, an denen vorwiegend Acid gespielt wurde. Einen kurzen Abstecher in den Detroit Techno erfolgte dann zur Blütezeit des belgischen Labels R&S, um sich dann 1995 wieder voll und ganz dem Acid zu widmen. Der Musikstil war in Europa wieder einmal kurz davor zu boomen.
1996 kam nach dem zahlreichen Auflegen für Dee Tree‑9 dann die logische Weiterführung: er fing an zu produzieren und hatte schon bald einige Liveacts, darunter im «E‑Planet» in Basel, einer Industriehalle. Doch das war ihm noch nicht genug: 1997 eröffnete er seinen eigenen Plattenladen Tronix Records und gleichnamiges Plattenlabel. Beide Projekte in Zusammenarbeit mit dem Berner DJ und Produzenten Deetron. «Zu dieser Zeit konnte ich von der Musik leben», sagt er dazu nachdenklich. Doch nach der Millennium Energy 2000 im Hallenstadion Zürich kam der grosse Breakdown: «Irgendwann hatte ich es einfach satt, immer bis Ende Monat zittern zu müssen, ob das Geld nun für die Miete knapp reicht oder nicht». Darum hat er sich wieder auf seinen Job als IT-Administrator konzentriert, mit dem er ganz zufrieden ist. «Heute fehlt mir zum Produzieren leider meistens die Zeit», gibt er schweren Herzens zu. «Aber Auflegen tue ich immer noch!»
Wer also Dee Tree‑9 mal auflegen hören möchte, sich nach der guten alten Zeit sehnt oder ganz einfach neugierig auf den Musikstil Acid ist, weil er/sie Mitte der Achtziger noch in den Windeln gelegen hat, der pilgert am 30. Oktober am besten in die Via Felsenau. Dort findet nämlich die Old School Acid Night statt.
Bild: zVg.
ensuite, Oktober 2004