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Weder Fisch noch Vogel

Von Bar­bara Roel­li — Sie sind eige­nar­tig. Schup­pig, feucht, tra­gen Hüte mit Lamellen; sie schiessen aus dem Boden oder leg­en ihren Pelz über abge­laufene Lebens­mit­tel: die Pilze. Sie sind tat­säch­lich eigen-artig – denn sie sind biol­o­gisch neben Tieren und Pflanzen als eigen­ständi­ges Reich klas­si­fiziert. Wed­er dem Gemüse sind sie zuzuord­nen noch leben­dem Geti­er, das man zum Verzehr töten muss. Sie sind wed­er Fisch noch Vogel. Und wer­den doch, weil sie reich an Eiweiss sind, auch als Fleisch des Waldes beze­ich­net. Das einzige Fleisch wohl, dass auch von Veg­e­tari­ern geschätzt wird.

Jet­zt ist ihre Sai­son. Wenn sich der Som­mer ver­ab­schiedet hat, die Schat­ten länger wer­den, Regen fällt und die Sonne durch den Wald blinzelt. Dann treten all die Röhrlinge, Täublinge, Tintlinge, Stachelpilze und Rit­ter­linge aus der Unter­welt. Milch­linge reck­en sich aus dem Boden und Trompe­ten blasen zur Herb­stzeit. Neben «Wild auf Wild» und «Feine Ver­mi­celles» zieren auch wieder «Frische Stein­pilze» die Menü-Tafeln der Restau­rants. Sich die Delikatesse vorset­zen lassen ist nie so aben­teuer­lich, wie sich selb­st auf die Suche zu begeben – in die Natur, ab von sicheren Wegen und Tram­pelp­faden. Pilze sam­meln, das ist für mich mein Gross­vater, der im Bern­er Ober­land «in die Pilze ging» und mit reich­er Beute zurück­kehrte. Die gefun­de­nen Eier­schwämme, Sem­melpilze und Birken­röhrlinge wur­den auf keinen Fall gewaschen – wed­er wässerig soll­ten sie wer­den noch ihre wichti­gen Inhaltsstoffe wie etwa Vit­a­mine ver­lieren. Mit einem Schnitzer sch­abte mein Gross­vater die Pilze fein säu­ber­lich ab und befre­ite sie so vom Dreck. In Scheibchen geschnit­ten dämpfte sie meine Gross­mut­ter dann mit Knoblauch und Zwiebeln in But­ter an. Bei dem Duft lief mir das Wass­er im Mund zusam­men. Und dann, als das Gericht mit Weis­s­wein abgelöscht, mit Tomat­en angere­ichert und etwas Rahm ver­fein­ert war und einige Zeit vor sich hingeköchelt hat­te, war es soweit: Dieser Geschmack von Wald­bo­den, von Tan­nen­nadeln, Baumharz und Moos konzen-tri­erte sich mit der but­terig-zarten Kon­sis­tenz der Pilze auf mein­er noch jun­gen Zunge.

Pilze sam­meln heisst für mich auch Fam­i­lien­fe­rien im Tessin und die Suche nach Stein­pilzen. Noch min­der­jährig und ungeduldig, wurde für mich alles, was irgend­wie nach Pilz auss­chaute, zur poten­ziellen Delikatesse. Ent­täuscht war ich, als der von mir mit Stolz präsen­tierte Fund von Vater als unge­niess­bar abgestem­pelt wurde. Aber am Abend kehrten wir mit eini­gen echt­en Exem­plaren zurück und Mut­ters Polen­ta con funghi porci­ni besän­ftigte mich. Und so wie sich mir die Herb­st­fe­rien im Tessin ins kuli­nar­ische Gedächt­nis bran­nten, so wuch­sen mit fortschre­i­t­en­dem Alter auch die Geduld und der Ehrgeiz, Pilze sam­meln zu gehen. Also eigentlich – Pilze suchen zu gehen. Denn sam­meln kann erst, wer über­haupt etwas find­et. «Wir sam­meln Pilze» tönt zwar dur­chaus motivierend – so, als ob es bere­its gewiss wäre, dass wir mit vollem Korb zurück­kehren wür­den. Aber gar nichts ist gewiss – die Natur hat ihre eige­nen Geset­ze und Launen. Und genau das ist es, was meinen Jäger- und Samm­ler-Instinkt weckt. Instink­te, die – was Nahrung bet­rifft – am verküm­mern sind. Eigentlich sind wir wie Katzen, wie zivil­isierte Tiere, die gerne einem Vogel hin­ter­her jagen und auch mal eine Maus ver­schlin­gen. Doch die Hauptmahlzeit bleibt Whiskas Ter­rine mit Truthahn – vorge­fer­tigt, ver­packt, mit Ver­falls­da­tum. Bei unser­er Nahrungsmit­tel-Besorgung – ob auf dem Markt oder beim Grossverteil­er – hat bere­its jemand für uns die Entschei­dung gefällt, was ess­bar ist. So nicht beim Pilze sam­meln: Da beste­ht das Risiko, dass sich ein mut­masslich­er Speisepilz zum hochgifti­gen grü­nen Knol­len­blät­ter­pilz ent­pup­pt. Wir sind es, die sel­ber dafür ver­ant­wortlich sind, was wir uns in den Mund schieben. Und ob wir uns beim Pilzkon­trolleur absich­ern, ist unser Entscheid. Auch mit dem Wis­sen, dass Pilze Schw­er­met­alle aufnehmen, lassen wir uns nicht von ihrem Genuss abhal­ten. Ist es vielle­icht ger­ade diese Frei­heit, die Eigen­ver­ant­wor­tung, die das Pilze sam­meln und essen so reizvoll macht?

Mich jeden­falls zieht es immer wieder in den Wald. Ich bahne mir den Weg durch dicht­es Geäst, durch Dor­nen, die sich am Stoff mein­er Hosen fes­thak­en. Ich wis­che mir Spin­nengewebe aus dem Gesicht und höre, wie mich Stech­mück­en von allen Seit­en zu attack­ieren ver­suchen. Mein Blick scan­nt den Boden ab. Irgend­wo hier, im halbfeucht­en Kli­ma muss er zu find­en sein: Der Stein­pilz. Mein Hirn blät­tert bere­its in der Rezepte-Kartei: Weis­s­wein-Risot­to mit gebrate­nen Stein­pilzen, frische Tagli­atelle mit gedämpften Stein­pilzen und Peter­silie, Poulet­brust an Stein­pilz-Rahm­sauce… Spe­ichel fliesst. Vielle­icht gehe ich ja schon längst über sein Reich. Ist doch der eigentliche Pilz im Boden und zieht dort sein feines, faden­för­miges Geflecht durch die Erde.

Plöt­zlich halte ich die Luft an – ist er es wirk­lich? Mit seinem wohlge­formten Hut, schon von Sch­neck­en ange­fressen, und dem dick­en Stiel? Vor­sichtig grabe ich ihn aus sein­er Ver­ankerung und beschnup­pere seinen Kör­p­er. Ich Glück­spilz! Und weit­er geht’s.

Foto: Bar­bara Roel­li
ensuite, Okto­ber 2009

Artikel online veröffentlicht: 11. September 2018