Von Albert le Vice — Zwei Geschichten habe ich Ihnen bis jetzt erzählt: Eine über den Geburtstag einer alten Stadt und eine über das Anfangen als Künstler. Heute geht es um etwas Geheimnisvolles, um das Erleben eines Zaubers, der wohl seit unserer Kindheit in jedem von uns auf seine Art lebt. Ja, es geht um Weihnachten – und zwar um jene Dimension von Weihnachten, die der heutige Geschäfts- und Geschenkerummel brutal verdrängt. Es geht um die poetische Seite von Weihnachten — um das Unvergessliche.
Stellen Sie sich jetzt mal Folgendes vor: Es dunkelt. Und es weihnachtet. Sie sind unterwegs – aber nicht in der hell erleuchteten Stadt, nicht unter den vielen Leuten, die noch dies erledigen und jenes nicht vergessen sollten, nein, Sie sind unterwegs im Wald.
Im dunklen, kalten Wald. Vielleicht schneit es, vielleicht auch nicht. Aber dunkel ist es – und drin im Wald ist es noch dunkler als auf dem Weg zu ihm hin. Es ist still.
Und plötzlich sehen Sie, noch ziemlich weit weg, etwas Eigenartiges. Etwas Helles. Etwas Funkelndes. Sie gehen darauf zu und haben langsam das Gefiih1, da stehe Ihnen etwas im Weg, so etwas, wie eine glitzernde Wand. Und wie Sie diesem Etwas näher kommen, erkennen Sie, quer zwischen den schwarzen Tannen, eine unruhig flimmernde Wand aus kleinen, sich fortwährend bewegenden Glasscheibchen. Ein eigenartiges Licht geht von ihr aus. Und mitten in dieser Glitzerwand bemerken Sie ein dunkles Tor und eine leuchtende, gläserne Schrift über dem Torbogen:
Sie gehen durchs Tor — und Sie sind in einer andern Welt. Den Weg säumen links und rechts winzig kleine Lichter, die Sie leiten. Und langsam merken Sie, dass Sie ja nicht allein sind hier. Sie hören, wie da auch andere Leute mit Ihnen denselben Weg gehen und sich langsam, kaum merklich, zu einer kleinen Gruppe zusammenschließen. Nach etwa hundert Metern verblassen die Weglichter, es wird stockdunkel und instinktiv bleibt die Gruppe stehen – unschlüssig.
In diese Unschlüssigkeit hinein erklingt plötzlich eine feine, vertraute Melodie. Bläser sind es wohl, vielleicht Posaunen. Und die spielen ein altes Weihnachtslied – weit weg und leise. Langsam kommt dieses Lied näher. Und wie die Musik – einige wenige Meter vor Ihnen – zum Stehen kommt, wird in den Bäumen, nur wenig über dem Boden, ein wundersames Bild aus Glas sichtbar – ganz langsam und aus dem Nichts. Ein schlichtes Bild: Ein Ast aus Glas, verzweigt, verästelt und mit feinen, gläsernen Blättern dran, die sich leise bewegen im Wind. Das Ganze umgeben von einem breiten Rahmen aus Glas. Wie vorhin die Musik, entsteht jetzt auch das gläserne Bild aus dem völligen Dunkel heraus und beginnt hell zu strahlen. Ebenso erstrahlt die Musik, leuchtend und festlich. Und kaum ist der höchste Glanz dieses Augenblicks erreicht, beginnt sich die Musik bereits wieder zu entfernen. Das Bild verblasst und verschwindet mit der Musik in der Feme der Dunkelheit dieses weihnächtlichen Waldes.
Und ehe die Leute sich versehen, leuchten die feinen, winzigen Weglichter wieder auf. Die Gruppe geht weiter – weiter bis zum nächsten Ort, wo sie wieder stehen bleiben muss. Und wieder kündigt sich – weit weg – ein nächster Weihnachtsklang an. Stimmen sind es diesmal, singende, helle Bubenstimmen, die näher kommen. Und wieder erscheint aus dem Dunkel ein geheimnisvolles Bild aus Glas, jetzt eines mit Vögeln, die friedlich schlafen. Kaum hat auch diese Bild seinen Zauber entfaltet, verschwindet der Traum auch schon wieder in der dunklen Feme.
So also erlebt sich der Weihnachtswald – von Klang zu Klang, von Bild zu Bild. Und es sind Bilder einer verzauberten, schlafenden Welt aus glitzerndem Glas; und es sind Klänge aus aller Welt, die das Wunder einer geheimnisvollen Geburt erzählen. Und die Leute, die heutzutage ja kaum mehr wissen, was Dunkelheit ist, erleben die unendliche Ungewissheit der Düsternis und deren gleichzeitiges Aufbrechen in einen heiteren, zuversichtlichen Glanz.
Eine Stunde vielleicht dauert dieser Gang durch die kalte Winternacht, und dann lockt ein nicht allzu fernes Licht in die Wärme eines einsamen Hauses. Dort gibt es was Heisses zu trinken, Gebackenes zu essen und es ist gemütlich warm.
So weit, so schön. Doch wie entsteht nun aber ein solcher Weihnachtswald? Gratis ist sowas sicher nicht.
Ja, auch das Umsetzen einer solchen Idee kostet Geld. Und gebetsmühlenhaft wird in unserer geldbestimmten Zeit immer zuerst – und ausschließlich – nach den Kosten gefragt, und es wird so suggeriert, alles Nichtkommerzielle sei gratis zu haben.
Drum will ich jetzt am Beispiel «Weihnachtswald» versuchen, eine andere Optik in die Diskussion zu bringen.
Der Weihnachtswald ist ein beinahe klassisches Beispiel für eine Kultur, aus der Aufträge entstehen, die darum Geld kostet.
Bilder aus Glas, das dürfte teuer sein! Nur, wer sagt eigentlich, dass diese kommerziell hergestellt sein müssen?
Und wenn das Schaffen von Glas-Bildern Leute übernehmen würden,
die einfach dabei sein möchten, wenn sich eine Idee verwirklicht?
Und wenn sich auf diese Weise Menschen aus der Stadt mit Dingen zu beschäftigen begännen, unter kundiger Leitung natürlich, die sich von ihrem alltäglichen, berufsmäßigen Tun deutlich unterschieden, ja mit diesem nichts gemein hätten?
Und wenn sich auf diese Weise Leute kennen lernen würden?
Und wenn sie plötzlich stolz wären, gemeinsam mit anderen Menschen ein Werk geschaffen zu haben, das öffentlich eine Rolle spielt?
Und wenn dieser Weihnachtswald unmerklich IHR Ort würde der Jahr für Jahr in der winterlichen Dunkelheit zu leben begänne?
„Fastnachtseffekt», das gefällt mir: Weihnachten mit Fastnacht vergleichen – «Stille, strahlende Nacht mit lauter, bunter Nacht»!
Genau darum geht es hier. Es geht um das Schaffen einer öffentlichen Kultur, die öffentlich, also von vielen Bürgern in gemeinsamem Tun getragen und dadurch auch verstanden wird. Auf diese Weise, meine ich, entsteht eine Kultur für die Gemeinschaft einer Stadt, also eine demokratische Kultur. Und die entwickelt sich nur durch gute, tragfähige Ideen und selber Hand anlegenden BürgerInnen.
Nein, gratis ist eine solche Kultur, ist ein «Weihnachtswald» nicht. Geld ist nötig. Aber Geld braucht es nicht, um Kultur zu kaufen, sondern um Strukturen zu bilden, die Kultur hervorzubringen im Stande sind. Darum ist die entscheidende Frage auch nicht, was ein «Weihnachtswald» kostet und wer das bezahlen soll, sondern, ob es Menschen gibt, die einen solchen Wald wollen und sich konkret für sein Entstehen einsetzen. Und wenn diese Frage positiv beantwortet wird, soll sich die organisierte Öffentlichkeit, also die Behörde, dafür einsetzen, dass das Werk entstehen kann.
Ich sage nicht, dass der «Staat» alles blechen soll, sondern er solle sich engagiert und interessiert dafür einsetzen, dass das Werk entstehen kann. Vielleicht findet er sogar Private, die sich selbstlos und mit Geld für ein solches Entstehen einsetzen.
Ich rede von selbstlosen Geldgebern, nicht von PR-Leuten. Auch Geldgeber sind Teil eines Gemeinschaftswerks, und sie sollen sich mit der Gemeinschaft aller freuen können an dem, was so geschaffen wird.
Weltfremd? Vielleicht. Vielleicht aber auch ein Mittel, um der Vereinzelung und der Freudlosigkeit unserer Zeit ein gemeinsames Erleben gegenüberzustellen. Das braucht keine Event-Millionen, keine Werbe-Orgie, nur schlichtes Sich-Einlassen auf eine Idee.
Soweit also die Idee «Weihnachtswald». Und was ist daraus konkret geworden? Nichts.
Die Realisierung war für Weilmachten 1999 im Gwatt-Zentrum bei Thun geplant. An der Umsetzung wurde auch tatsächlich gearbeitet. Allerdings war das Gwatt-Zentrum als tragende Organisation mit der Realisation und der Organisation dieses Werks praktisch überfordert. Im Klartext: Das Ganze konnte auf den vorgesehenen Zeitpunkt, den 25. November 1999, nicht fertiggestellt werden. Dies erkennend brach ich das Unterfangen vorzeitig ab mit der Absicht, den Weihnachtswald im darauffolgenden Jahr, und in aller Ruhe, dann doch noch entstehen zu lassen.
Dazu kam es nicht – dafür aber zu Machtspielen und zum endgültigen Wegzug des «kleinen Freudenhaus» aus dem Gwatt-Zentrum. (Das kleine Freudenhaus war hier nämlich von 1998 bis 2000 in Betrieb.)
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2011