Von Barbara Roelli — Er schwamm weit hinaus in den See. So weit, bis er die Insel in der Ferne endlich auftauchen sah. Sein Herz schlug fest, er war zu schnell los geschwommen und musste nun wieder in den steten Rhythmus zurückfinden – dieses konstante Ein- und Ausatmen. In langen Stössen pustete Eric die Luft aus seiner Lunge und liess neue Luft durch die Nase einströmen. Brustschwimmen konnte er schon gut seit er Kind war. Und im Schwimmunterricht in der Schule liess ihn der Lehrer jeweils vorzeigen, wie die richtige Haltung beim Brustschwimmen zu sein hat: Der Körper liegt flach im Wasser, Oberkörper und Kopf zeigen nach oben und sind aus dem Wasser gereckt. Beine und Arme sind entweder gestreckt oder angezogen, um den Körper im nächsten Zug nach vorne zu schieben. Aber Respekt verschaffen konnte sich Eric so nicht bei seinen Klassenkameraden. Weil er vorzuzeigen hatte, wie Brustschwimmen geht, galt er als Lehrerliebling. Und Lehrerlieblingen wurde die Badehose runter gezogen und weggenommen. Oft war Eric der Letzte, der aus dem Becken stieg und mit blauen Lippen und der Hand vor dem Geschlechtsteil Richtung Garderobe schlich. Die Badehose fand er jeweils tropfnass auf seinen Kleidern wieder.
Eric schob diese Erinnerung beiseite und schwamm weiter. Die Insel kam immer näher. Seine Arme begannen zu schmerzen und er glaubte, ein leichtes Seitenstechen wahrzunehmen. Aber er musste weiter. Erst auf der Insel würde er dem Geheimnis auf die Spur kommen, das ihn sein ganzes Leben lang schon beschäftigt hat: Das Geheimnis des Caramels. Wie entsteht dieser süsse, Zuckerwatte ähnliche Geschmack? Dieser Goût, der ihn sich immer wieder an seinen ersten Kuss erinnern lässt. Dieses Röstaroma? Die kräftigbraune Farbe?
Es waren nur noch wenige Meter bis zum Ufer der Insel, nur noch einige Male Arme und Beine vor- und zurückbewegen. Endlich! Eric zog sich am Ast eines Baumes an Land und wollte eben den ersten Fuss auf die Insel setzen – da wachte er auf. Er richtete sich auf im Bett und rieb sich die Augen. Gähnend griff er nach seinem Natel auf dem Stuhl neben dem Bett und schaute auf den Display: 24. Dezember stand dort, 9.00 Uhr. Yeah! Es hatte wieder geklappt – der innere Wecker stellte sich jedes Jahr von neuem ein, wenn Eric an Weihnachten für die Caramelköpfli verantwortlich war. Jedes Jahr, in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember träumte er denselben Traum. Und immer ging es darum, das Geheimnis des Caramels zu lüften.
Eric schälte sich aus dem warmen Duvet und schlüpfte in die Boxershorts. Er schob den Vorhang zur Seite, schaute aus dem Fenster auf die Strasse herunter. Auf Schnee hatten alle vergebens gehofft – stattdessen hingen zum Festtag unheimliche Nebenschwaden zwischen den Bäumen und Häusern. In dicke Wintermäntel gehüllt schoben sich die Leute aneinander vorbei. Die meisten von ihnen waren beladen mit Schachteln und Säcken. Die letzte Möglichkeit, noch einige Geschenke zu besorgen. Diesem Stress setze ich mich nicht mehr aus, dachte Eric. Warum auch? Mit seinen Caramelköpfli vermochte er die Familie in den siebten Himmel der kulinarischen Freuden zu katapultieren: Seine Schwestern stöhnten jeweils vor Verzückung, der Bruder wurde einfach nur ganz still, seine Mutter kriegte regelmässig feuchte Augen, und selbst sein Vater, dem Süsses normalerweise gestohlen bleiben konnte, murmelte Komplimente in seinen Bart.
Eric zog sich an und schrieb die Zutaten auf, die er für die Caramelköpfli benötigte: Zucker, Milch, Eier, Vanille und Rahm. Nach dem Einkauf würde er direkt zu seinen Eltern fahren, in den kleinen Ort, 20 Minuten von der Stadt weg. Im Gang schaute er noch kurz in den Spiegel, während er sich das Halstuch umband. Wie der Zucker unter seiner Regie in der Pfanne schmelzen wird, so wird er auch seine Familie zum Schmelzen bringen. Und es würde ihn daran erinnern, wie er damals dahinschmolz, als er zum ersten Mal geküsst wurde.
Foto: Barbara Roelli
ensuite, Dezember 2011