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Weltveränderung ohne feministisches Potenzial

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Die Aktivistin Helen Keller meinte ein­mal: «Die Blind­heit tren­nt von Din­gen, die Taub­heit von Men­schen.» So gese­hen sind wohl die meis­ten Män­ner taub. Sie reden unun­ter­brochen, doch hören sie, vor allem wenn Frauen sprechen, egal ob Nobel­preisträgerin oder Putzfrau, nicht hin. Taub­heit bet­rifft sta­tis­tisch über­durch­schnit­tlich Män­ner. Sie sind man­gels «ganz Ohr sein» von der Wirk­lichkeit getren­nt. Diese fehlende Eigen­schaft führt ana­log und lei­der auch dig­i­tal dazu, misog­y­ne Taub­heit mil­lio­nen­fach zu automa­tisieren.

Fol­glich sind die Fes­seln für gequälte Frauen aus dem Mate­r­i­al «männlich unendlich repro­duzier­bare Vorurteile» in Kul­tur, Poli­tik und in Codes gestrickt. Dieses glob­ale Phänomen analo­gen und automa­tisierten Frauen­has­s­es  fällt Denkerin­nen wie Car­o­line Cri­a­do-Perez, Amy Webb, Shoshana Zuboff, Cathy O’Neil und mir schon längst auf. Es gibt dazu sehr lesenswerte und mit Wis­sen voll­gepack­te Büch­er von uns, doch die wirk­lich wichti­gen Män­ner der Zeit­geschichte brauchen nicht zuzuhören oder gar zu ver­ste­hen.

Hier schnell ein Ein­schub aus der The­o­rie, damit keine Missver­ständ­nisse entste­hen: Es gibt kollek­tive Frauen­feindlichkeit, Sex­is­mus, Diskri­m­inierung, Misog­y­nie, aber keine einzige Frau ist ein­fach nur Kat­e­gorie. Alle Frauen wer­den zwar indi­vidu­ell entwertet und kollek­tiv abges­traft; sie sind sel­ber aber keine sprechen­den und han­del­nden Kollek­tive. Was kom­pliziert klingt, ist ein­fach: Während Mann xy sich dur­chaus als Indi­vidu­um ent­fal­ten kann, muss Frau xy auf min­destens zwei Ebe­nen für ihre Eigen­ständigkeit kämpfen: gegen oder mit ihrem Geschlecht, das sich kollek­tiv man­i­festiert, und, je nach Umstän­den, gegen und mit ihrer ganz eige­nen Geschichte.

Wer­den wir mal konkret, guck­en uns um und stossen auf ein beson­ders kluges Exem­plar dieser dom­i­nan­ten Kul­tur- und Bio­gat­tung, näm­lich auf Milo Rau: Der The­ater­ma­ch­er, Wis­senschaftler, Hans­dampf in allen intellek­tuellen Gassen ist Arche­typ eines rev­o­lu­tionär begabten Weltverän­der­ers ohne fem­i­nis­tis­ches Poten­zial. Wie es bspw. der Fam­i­lien­vater schafft, gle­ichzeit­ig über­all zu sein, erin­nert an die Geschichte vom Hasen und vom Igel: Der Igel ist längst schon da, wenn sich andere, vor­wiegend weib­liche Kul­turhasen, die Hax­en abren­nen, um auch nur ein paar Brotkru­men der Medi­en­aufmerk­samkeit eines Milo Rau für sich zu holen. Hin­ter Milo Rau muss eine mobile Fab­rik beste­hend aus zahlre­ichen Men­schen ste­hen. Anson­sten ist seine Omnipräsenz nicht erk­lär­bar: Milo Rau schreibt regelmäs­sige Kolum­nen, Essays, Inter­ven­tio­nen; er ist festes Mit­glied im «Lit­er­atur­club» des Schweiz­er Fernse­hens; er hat let­ztes Jahr einen grossen Kinofilm zur Pas­sion gemacht; bei den Salzburg­er Fest­spie­len 2020 war er mit «Every­woman» dabei;  in Genf im Früh­jahr 2021 mit ein­er Mozart-Oper präsent; in Gent amtiert er als Inten­dant und ausser­dem leit­et er seit dem ersten Lock­down «Para­noia TV». Daneben schreibt er zahlre­iche Büch­er, das neuste ist frisch von der Druck­er­presse. Der Wikipedia-Ein­trag zu Milo Rau ist Hymne pur: auch dies ein sprechen­des Zeichen funk­tion­ieren­der Män­ner­fre­und­schaften. Bei Frauen ähn­lichen Zuschnitts schiessen die Wikipedia-Her­ren regelmäs­sig bru­tal unter die Gürtellinie. Milo Rau ist The­ater­gott, Rev­o­lu­tionär, Intellek­tueller, Essay­ist, Inter­ven­tion­ist, Regis­seur, Best­seller­autor – alles in einem. Kein ander­er dominiert die pro­gres­sive, rev­o­lu­tionäre, linke Szene der­art beklatscht wie Milo Rau.  Der UBER-Men­sch Milo Rau hat sog­ar zu Han­nah Arendt einen Artikel ver­fasst: ja genau. Aus­gerech­net er über diese Philosophin, die seine Art post­mod­ern­er Täter- und Opfer­ver­mis­chung wohl aufs Schärf­ste zerpflückt und verurteilt hätte. Doch Milo Rau macht aus allen, die vor oder mit ihm kom­men, ein ver­w­ert­bares Kult­pro­dukt in eigen­er Sache. Milo Rau kann sog­ar Kinder­folter von real existieren­den Kindern erzählen lassen, ohne dass es zum Auf­schrei käme. Klar doch: Die Rechte motzt ständig, ist argu­men­ta­tiv indessen nicht ernst zu nehmen, und ich würde den Teufel tun, denen im Falle ein­er Kri­tik an Rau recht zu geben.

Doch die Taub­heit Raus, des Feuil­letons und der Akademie gegenüber der soge­nan­nten «Frauen­frage», postkri­tisch Gen­der genan­nt, fasziniert. Nicht zulet­zt weil es das beliebte Män­ner-Muster seit 1968 ist. Kri­tik, Kun­st, Poli­tik bleiben auch in der linken Szene Angele­gen­heit rev­o­lu­tionär­er Män­ner, Frauen kom­men, wenn über­haupt, höch­stens bei soge­nan­nten weichen The­men zu Wort, siehe hier auch die Vorkomm­nisse der pro­gres­siv­en Berlin­er Volks­bühne. Geschicht­spro­fes­sorin Hed­wig Richter beschreibt dieses tra­di­tionelle Demokratiev­er­ständ­nis, in welch­er der Kampf um poli­tis­che Teil­habe immer als Rev­o­lu­tion gefasst wird, als struk­turell anti­demokratisch und frauen­feindlich. Denn die erfol­gre­ichen poli­tis­chen Teil­habekämpfe wur­den in der Ver­gan­gen­heit vor allem durch Refor­men und nicht durch Rev­o­lu­tio­nen erre­icht. «Es spricht vieles dafür, dass die Fokussierung der Demokratiegeschichte auf Rev­o­lu­tio­nen zur Blind­heit gegenüber Frauen in der Demokratie- und in der Wahlrechts­geschichte beiträgt», meint die preis­gekrönte His­torik­erin. Deshalb find­et die Geschichte des Frauen­wahlrechts in den Geschichts­büch­ern kaum Erwäh­nung. «Der Stoff passt nicht in die brausenden Rev­o­lu­tion­setü­den» (Hed­wig Richter) link­er Kul­tur­män­ner. Denn die Durch­set­zung des Frauen­wahlrechts gestal­tete sich weit­ge­hend nicht rev­o­lu­tionär: Die Akteurin­nen waren Frauen in lan­gen Röck­en und sie erre­icht­en Fortschritte durch lang­wierige Vere­inssitzun­gen, Peti­tio­nen, Bil­dungsar­beit und Artikel.

Der von der Linken und dem Feuil­leton hochgelobte Milo Rau rei­ht sich in diese die Demokratie nicht rezip­ieren­den Nar­ra­tive ein. Er übt nur dort Kri­tik, wo es der bürg­er­lichen Mehrheit wehtut, aber inner­halb der eige­nen Rei­hen mit Kopfnick­en zuges­timmt wird. Milo Rau gefährdet seine Exk­lu­siv­po­si­tion als welt­bekan­nter Regis­seur, Filmemach­er und Wis­senschaftler selb­stver­ständlich nicht durch fehlende Dra­matik oder, bewahre, gar Fem­i­nis­mus. Die «New York Times» feiert Milo Rau als «kon­tro­ver­s­es­ten Kün­stler unser­er Zeit», selb­st wenn die Kon­tro­verse darin beste­ht, eine Oper von W. A. Mozart als «Gebrauchsmusik», als «Pop­musik sein­er Zeit» zu insze­nieren und Flüchtlinge als Sta­tis­ten auftreten zu lassen. («Appen­zeller Zeitung» 13.2.2021)

Milo Rau arbeit­et «gän­zlich unvor­bere­it­et», laut seinem neuen Kolum­nen­buch wie ein Päd­a­goge: «Wie ein Train­er in der Prov­inz» schaffe er es, alles zu cas­ten, so schreibt er da: Pferde, Salafis­ten, «Weltwoche»-Journis, irre Div­en, nur bei flämis­chen Kindern würde er scheit­ern. Scherzhaft schliesst er mit einem Lob auf LehrerIn­nen und macht aus sein­er Präferenz für «Massenmörder:innen, Islamisten:innen und Div­en» (Schreib­weise im Orig­i­nal) keinen Hehl. Milo Rau lässt beim Kinder­folter­er Marc Dutroux dessen poli­tis­che Ver­strick­ung sowie sex­uelle Folter weg und betitelt ihn durch­wegs als Kin­der­mörder. Diese Vorge­hensweise entspricht der Fasz­i­na­tion Raus für die Täterop­tik. Den anderen Kin­der­mörder, den recht­en Ter­ror­is­ten Anders Behring Breivik, lässt er auf der Bühne durch die Deutschtürkin Sascha Soy­dan sprechen. «Das Befriedi­gende an Skan­dalen ist», meint Milo Rau im Kolum­nen­buch, «dass alles bestätigt wird, was man bere­its wusste. Es ist ja nicht so, dass sich die Vorurteile nach der Wirk­lichkeit richt­en: Es ist die Wirk­lichkeit, die sich ele­gant an die Klis­chees anzuschmiegen hat.» Milo Rau spielt das Spiel gelassen: «Und es kommt so, dass Skandalregisseur:innen Skan­dal­stücke insze­nieren und sich anschliessend in Talk­shows oder Kolum­nen wie dieser über den Skan­dal bekla­gen.»

Milo Raus fehlen­des fem­i­nis­tis­ches Engage­ment erwäh­nt nachtkritik.de expliz­it lobend, als ob fem­i­nis­tis­ches The­ater befleckt, eklig oder alt­back­en wäre: «Every­woman: Es hätte auch ein Jed­er­mann sein kön­nen, denn um einen fem­i­nis­tis­chen Zugang geht es hier ganz und gar nicht.» Wir spüren förm­lich das Aufat­men: Wo kämen wir denn hin, wenn Rev­o­lu­tionäre plöt­zlich fem­i­nis­tisch wür­den? Dazu passt Milo Raus Essay-Samm­lung mit dem Titel: «Althussers Hände» im Ver­brech­er-Ver­lag. Der franzö­sis­che Marx­ist und Philosoph Louis Althuss­er erwürgte seine Frau, die Sozi­olo­gin und Wider­stand­skämpferin Hélène Ryt­mann-Légo­tien. Das Ver­fahren gegen Althuss­er wurde eingestellt, er wurde in die Psy­chi­a­trie eingewiesen und veröf­fentlichte noch Jahre nach dem Mord viel­gelobte Schriften. Bis heute wird er unter den Linken, eben auch von Milo Rau, als Vor­denker verehrt. So viel zur inner­linken «Can­cel-Cul­ture», wo ein Fem­izid wie bei den Islamis­ten und den Recht­en als unglück­lich­es Zusam­men­tr­e­f­fen «per­sön­lich­er Ver­strick­un­gen» inter­pretiert wird. Ach ja: Der Kolum­nen­band im Früh­jahr 2021 ist die dritte Pub­lika­tion Raus seit dem ersten Coro­na-Lock­down: Zwei Bände gibt es von ihm dazu: «The Art of Resis­tance» und «Why The­atre?». Auch da: Män­ner. Am lieb­sten würde Milo Rau laut Eige­naus­sage mit «dem Aja­tol­lah über die Ästhetik der Minarette» debat­tieren, sehr orig­inell, denn ganz ehrlich? Über Frauen­rechte wüssten bei­de nichts zu bericht­en. Es ist das Prinzip, das den Dis­pos­i­tiv­en der Macht zugrunde liegt: Das, was gefährlich ist, bleibt ausser­halb des eige­nen Schaf­fen­sra­dius und wird im The­ater von Milo Rau getren­nt. Oder kön­nte es sein, dass Milo Rau Frauen so harm­los – im dop­pel­ten Wortsinn – entsorgt, dass er, der von den dun­klen Seit­en men­schlich­er Exis­tenz weiss, aus­gerech­net in dieser Frage ein dual­is­tis­ches Kul­tur­sortieren betreibt und die Welt in Gut und Böse, d. h. in männlich sicht­bare Rev­o­lu­tionäre und banal weib­liche Unsicht­bare wei­t­erin­sze­niert?

Dis­claimer: Reg­u­la Stämpfli hat Milo Rau im Jahr 2013 in München ken­nen und schätzen gel­ernt. Dies hält sie als Intellek­tuelle nicht davon ab, auch bei wichti­gen Kol­le­gen, Bekan­nten, ja bei sich selb­st struk­turelle Gewalt immer mitzu­denken. Dies hat ihr erst kür­zlich eine sehr ver­leumderische und üble Auseinan­der­set­zung mit dem Kul­turredak­tor Andreas Tobler vom «Tages-Anzeiger», zeitlich vor dem offe­nen Brief von 78 Redak­torin­nen an die Geschäft­sleitung, die tox­is­che Betrieb­skul­tur im Hause TX Group betr­e­f­fend, auf Twit­ter einge­brockt. Das The­ma «Sex­is­mus im Medi­en- und Kul­turbe­trieb» ist selb­st für eine arriv­ierte Frau wie laS­taempfli also alles andere als easy, im Gegen­teil.

GRUNDSÄTZLICH UNVORBEREITET.
99 Texte über Kun­st und Gesellschaft, hg. Von Rolf Bossart und Kaat­je De Geest
www.verbrecherverlag.de

Artikel online veröffentlicht: 2. Mai 2021 – aktualisiert am 14. Mai 2021