Von Esther Sutter — José Limon war einer der grossen Protagonisten des amerikanischen Modern Dance. Sein Werk ist bis heute lebendig und setzt immer wieder neue Massstäbe. In der Schweiz kann es nun entdeckt werden im Rahmen des internationalen Tanzfestivals Steps#12.
Von der Limón Dance Company geht ein Zauber aus, der weltweit ein breites und heterogenes Publikum zu fesseln vermag. Es ist das Repertoire, das die Company aus New York auszeichnet: Ein klug durchdachter Mix aus auserwählten historischen wie auch neuen Choreografien des Modern Dance und des zeitgenössischen Tanzes. Immer stehen die dreizehn brillanten Tänzerinnen und Tänzer im Mittelpunkt. Das ist in Zeiten des Regietheaters und der Starchoreografen keineswegs selbstverständlich, doch bei der Limón Company durch eine lange Tradition gegeben. José Limón war selbst nicht nur ein herausragender Choreograf, er war auch ein brennend intensiver, charismatischer Tänzer, der höchste Ansprüche an die Bühnenpersönlichkeit seiner Ensemblemitglieder stellte und sie niemals als reine Interpreten sah. Die Herausforderung an heutige Tänzerinnen und Tänzer heisst: In einer Rolle aufgehen, sie mit jeder Muskelfaser verkörpern in einer höchst dynamischen und eigenwilligen Tanzsprache.
«Fallen und sich wieder aufrichten, wieder fallen… Das Momentum dazwischen lässt sich nicht kopieren wie eine Tanzposition. Es liegt an der Tänzerin, dem Tänzer, dieses Momentum zu kreieren als den kostbaren Moment eigenen Empfindens. Da kommen technische Raffinesse, hohe Sensibilität für Raum und Zeit und der Wille zusammen, diesen Moment jedes Mal als den eigenen und einizgartigen zu kreieren.» Für Carla Maxwell, die künstlerische Leiterin der Limón Dance Company in New York, ist die Dynamik im Tanz, gepaart mit der Musikalität, höchstes künstlerisches Prinzip. «José Limóns choreografisches Werk war geprägt von einer tiefen Menschlichkeit. Die Erschütterungen des Lebens, sich seiner Dynamik hingeben und der Glaube, dass das Gute im Menschen siegen würde, waren seine Inhalte», fügt Maxwell hinzu.
José Limón kam 1915 in die USA. Er war mit seiner Familie auf der Flucht vor der mexikanischen Revolution. Dem amerikanischen Modern Dance bescherte der Mexikaner eine der stilbildenden Tanztechniken und ein choreografisches Œuvre, das bis heute durch seine bewegte Innerlichkeit besticht. Limón gilt als Protagonist des amerikanischen Modern Dance, nicht weniger wichtig als seine Zeitgenossin Martha Graham oder später Merce Cunningham. José Limóns Choreografien bilden eine wichtige Grundlage für das heutige Verständnis des Tanzes in Bezug auf ihre ausgefeilten Konzepte zur Tanztechnik wie auch zum dramaturgischen Aufbau. Dabei wirkt das Werk aus der Mitte des 20. Jahrhunderts sinnlich und aufregend, denn die Choreografien sind immer schlicht, auf das Wesentliche reduziert. Nie sind sie überladen oder mit Emotion durchtränkt, alles ist aufgelöst in Tanz. Von Anfang an arbeitete José Limón im Geiste seiner Mentorin Doris Humphrey. Ihr 1958 veröffentlichtes Buch «The Art of Making Dances» (deutsch: «Die Kunst, Tänze zu machen») ist eines der Standardwerke zur Choreografie geworden.
Heute ist die Limón Dance Company, gegründet im harten Nachkriegsjahr 1946, das älteste kontinuierlich arbeitende Tanzensemble in den USA. Angesichts des harschen und sprunghaften Finanzierungssystems in den amerikanischen Performing Arts spricht die Kontinuität für die Hartnäckigkeit, mit der José Limón einerseits seine Stücke kreierte und anderseits eine Company heranzog, die auch in der Lage war, das Werk des Meisters über seinen Tod hinaus lebendig zu erhalten. Die Company will dieses Werk einfach tanzen.
Im Mittelpunkt von Limóns Werk steht Othello: Shakespeares Mohren widmete der Choreograf bereits 1949 sein Stück «The Moor’s Pavane». Die Choreografie ist ein Juwel der Tanzgeschichte, kaum zu überbieten an Dramatik und Sinnlichkeit und dennoch kristallklar gebaut. Ihr Schöpfer beschränkte sich auf die vier Hauptcharaktere Othello, Jago, Desdemona und Emilia. Aus ihnen entwickelte er das Drama über Eifersucht und Tod, ohne auch nur für einen Moment die Basis des Schreittanzes Pavane zu verlassen. Die Musik aus der Renaissance von Henry Purcell gibt dem Stück nicht nur enorme Dynamik, sie ist auch Puls, Herzschlag des Geschehens.
«There is a Time», entstanden 1956, stellt José Limón als Lyriker vor: «Für alles Tun gibt es den richtigen Zeitpunkt» ist das Thema, das er mit zwölf Tänzerinnen und Tänzern choreografisch sehr dicht und berührend exponiert. Limón bezieht sich dabei auf die biblischen Bücher der Weisheit. Wenn Carla Maxwell im Gespräch immer wieder auf den «singenden Körper» verweist, auf den Körper, der tanzend seine eigene Musik erklingen lässt, dann wird dies gerade in «There is a Time» physisch wahrnehmbar: Die Zuschauenden werden mitgenommen, fortgetragen in die weiten Bögen langer Legati, die sich immer wieder brechen durch rasante Wechsel in Tempo und Momentum. Zuschauen ist bei der Limón Dance Company immer aufregend, ein durchaus sinnliches, ja körperliches Ereignis. Das bewirkt der Impetus der höchst elaborierten Tanzsprache.
Dass durch das Repertoire der Company nicht einfach Tanzgeschichte vermittelt wird, sondern eine grosse Tradition weiter getanzt wird und laufend in jüngere choreografische Kreation einfliesst, zeigt zum Beispiel Clay Taliaferros «Into My Heart’s House». Der Titel sagt es schon: Die choreografische Studie ist ein Bekenntnis aus tiefstem Herzen, aufgelöst in Leichtigkeit und Kraft, eingeschrieben in den grossen Bogen filigranen Schrittwerks. Eine Ode an den Meister mit dem Frischedatum des 21. Jahrhunderts. Die musikalische Collage von Barock bis Rock bereitet die Basis für die konzertante Choreografie. Und da tauchen ganz unvermittelt die kruden Klänge vom präparierten Klavier des Schweizer Musikers und Komponisten Nik Bärtsch auf. Er hat in letzter Zeit mit seinem «Ritual Groove» international auf sich aufmerksam gemacht. «.… ich mag Rituale», meint Bärtsch, «sie liegen mir am Herzen, weil sie uns dazu verhelfen, tolerant und verbindlich zu sein.» Das hätte auch José Limón unterschrieben. Besser könnten sich Tradition und Innovation nicht begegnen.
2008 feierte die Company das 100-jährige Bestehen ihres grossen Choreografen, gleichzeitig wurde die José Limón Dance Foundation mit der US National Medal of Arts ausgezeichnet für ihre innovativen Beiträge zur Geschichte und Entwicklung des Modern Dance. In der Schweiz sind José Limón und sein Œuvre kaum bekannt. Die Zeit ist mehr als reif für eine Begegnung. Steps#12, das internationale Tanzfestival des Migros-Kulturprozent, stellt die Limón Company nun dem Schweizer Publikum vor. «Die Welt tanzt an», heisst das Motto der diesjährigen Festivalausgabe. Ohne den Blick auf José Limóns Œuvre wäre das kaum vorstellbar.
Foto: Rosalie O‘Connor
ensuite, April 2010