Von Roja Nikzad — Holprig und mit viel medialem Aufruhr begann die diesjährige Saison im Opernhaus Zürich. Heinz Spoerli, der viel gelobte, aber auch verächtlich betuschelte Visionär und Direktor des Zürcher Balletts, provozierte bereits am zweiten Vorstellungsabend einen Gau, indem er drei Minuten vor Aufführungsbeginn die Vorstellung absagte und 1000 Menschen nach Hause schickte. Und was tun die Medien, sie stilisieren den Gau zu einem Supergau.
Ist er jetzt eine «Mimose», wie die SVP in die Welt hinausschimpft, oder ist er ein genialer Künstler, der nun mal mit Samthandschuhen angefasst werden muss, damit seine kreative Seele keinen Schaden nimmt? Muss sich der Steuerzahler beleidigt fühlen, oder ist Kunst nunmal Kunst, und die Akteure sind eben nicht immer so angepasst, wie es der Staat sich wünscht?
Einmal mehr: Die wahren Leidtragenden bleiben die Techniker, die, wie immer in solchen Betrieben, da das Geld zwar fliesst, aber eben doch nicht überall hin, zu hierzulande als «Hungerlöhne» zu bezeichnedem Entgelt arbeiten, und ohne wenn und aber mit den Spleens der künstlerischen Leiter umgehen müssen. Natürlich, auch die Techniker werden nicht gezwungen, in einem künstlerischen Betrieb zu arbeiten, wo, naja, eine gewisse Freizügigkeit und Kulanz im Umgang mit divenhaften, zum Teil rücksichtlos egoistischen, aber eben auch im positiven Sinn skrupellosen Visionären betrieben wird.
Ist das Opernhaus inklusive Pereira und Spoerli sympathisch? Nein. Pereira würdigt seine Mitarbeitenden in den Gängen nicht einmal eines Blickes – von Grüssen kann erst gar nicht die Rede sein; obwohl ihm eine Heerschar von Menschen, von den Toiletten-Damen über die Platzanweiserinnen und Garderobieren, bis hin zu den Licht- und Tontechnikern den Rücken freihalten, damit er 13 Premieren im Jahr bewerkstelligen kann.
Auch Spoerli rennt zuweilen wutschäumend aus der Vorstellung, weil er drei Etagen tiefer, weit weg vom Zuschauerraum, jemanden lachen gehört hat. Aber, sympathisch oder nicht, dieses Haus hat sich einen Namen gemacht, und muss sich im internationalen Vergleich keineswegs schämen. Und vor allem Heinz Spoerli, dessen Ballette eine sublime Schönheit und choreographische Perfektion ausstrahlen, so dass man in den Rängen manchmal schmelzen, manchmal vor Rührung einige Tränen verdrücken will, verzeiht man auch mal einen Fauxpas.
Vielleicht deshalb war auch bei der Wiederaufnahme des von Spoerli inszenierten und choreographierten Handlungsballetts «Raymonda» von diesem Trubel bereits nichts mehr zu spüren.
Ist das Opernhaus
inklusive Pereira und
Spoerli sympathisch?
Nein.
Schon bei der romantischen Ouvertüre mit weichen Posaunenklängen, entrückte einen Glasunows Musik aus der Realität, in eine märchenhafte Welt. Sobald sich sehnsüchtige Violinenklänge mit Posaune und Harfe vermischten, und der Vorhang sich hob, was er erfreulicherweise tat, war man schon mitten in der unkomplizierten, dualen Welt der Raymonda. Die wundervolle Musik Glasunows, in Kombination mit Spoerlis Choreographie, liess einen die Banalität der Handlung, die doch etwas sehr dünn ist, übersehen. Zusätzlich war die Kostümausstattung wieder einmal atemberaubend, und die Bühne mit all ihren Facetten unglaublich stimmungsvoll.
Die Geschichte ist einfach: Raymonda, getanzt von Aliya Tanykpayeva, verlobt sich mit dem provenzalischen Kreuzritter Jean de Brienne, bevor dieser in den Krieg ziehen muss. Auf der Geburtstagsfeier der jungen Verlobten taucht als Überraschungsgast der feurige Sarazene Abderachman auf, und startet sofort seine leidenschaftliche Buhlerei. Den stählernen Oberkörper nur dürftig bekleidet, ist Abderachman der fleischgewordene Verführer, der Raymonda ins Wanken bringt. Raymonda zeigt auf wirklich erstaunlich unkomplizierte Weise die Situation einer jungen Frau vor der Heirat, die sich zwischen zwei Verehrern nicht entscheiden kann. Soll sie sich dem Abenteuer hingeben? Oder soll sie den sicheren Hafen ansteuern? Im Traum versucht sie sich zu entscheiden. Am Schluss wartet ein gemischtes Happy-End. Sie heiratet ihren Verlobten, den sie liebt, der Sarazene ist im Zweikampf unterlegen, und verschwindet auf immer. Raymonda wirft, trotz ihres Glücks, einen letzten sehnsüchtig melancholischen Blick in die Ferne, in Erinnerung an den Sarazenen.
Wenngleich die Kasachin Aliya Tanykpayeva eine wunderbare Raymonda abgab, gilt doch für diese Produktion das wahre Lob den männlichen Solisten. Sowohl Stanislav Jermakov als Jean de Brienne, wie auch der Sarazene, Vahe Martirosyan, haben eine hervorragende Leistung gezeigt. Sehr kontrastreich haben die beiden Männer um die Liebe von Raymonda gebuhlt, die manchmal etwas hölzig und steif erschien. Zwei weitere männliche Solisten, nämlich die beiden Troubadoure und engsten Freunde von Raymonda, getanzt von Arsen Mehrabyan und Arman Gigoryan, verhalfen je einzeln und in Kombination zu ausserordentlicher Freude. Man muss zugeben, was nicht oft der Fall ist, dass die Einzelleistungen dieser Herren diejenigen der Damen fast etwas in den Schatten gestellt haben.
Spannend blieb es immer auch aus Gründen der muskalischen Vielfalt. Die Auftritte des Abderachman wurden mit arabischen Klängen begleitet, ganz im Gegensatz zu Einschüben wie dem Grand pas hongrois, wo die Damen des Ensembles in Stiefelchen, nach ungarischer Volkstanzmanier, mit den Hacken im Rhythmus auf den Boden klopften. Die unglaubliche Synchronizität, die das Ensemble nicht wenige Male in Raymonda erreicht hat, zeugt, wie immer, von der grossen Disziplin der Truppe und ihrem Leiter. Der Zuschauer bedankt sich für den Augenschmaus.
Wenn sich also der Vorhang im OpernhausSaal hebt, wie er es in den letzten 14 Jahren der Spoerli-Ära sonst immer getan hat, dann hinterlassen die tänzerischen Märchenwelten den Eindruck einer versöhnlichen Schönheit.
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010