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Wenn die Schwächsten bekämpft werden

Von Patrik Etschmay­er - Welch­es sind wohl die Schwäch­sten in unser­er Gesellschaft? Die Wahl ist nicht ein­fach, sich­er, aber gewisse Grup­pen sind sich­er mit dabei. Unter den Ein­heimis­chen gehören unter­dessen IV-Bezüger ver­mut­lich zu der am meis­ten benachteiligten und ver­fol­gten Gruppe (ja: ver­fol­gt!), die von der Poli­tik und der Exeku­tive ger­adezu in die Vere­len­dung gehet­zt wird.

In der Schweiz­er Ärztezeitung schrieb die Fachärztin für Psy­chi­a­trie und Psy­chother­a­pie Doris Brühlmeier Rosen­thal darüber, wie die von bürg­er­lichen Poli­tik­ern immer wieder geforderte und jet­zt auch prak­tizierte «härtere Gan­gart» gegenüber «Schein­in­vali­den» das schon sehr belastete Leben von kranken Men­schen zer­stört, und damit vielfach auch jenes von deren Umfeld.

Da wer­den Men­schen mit schw­eren psy­chis­chen Prob­le­men nach Dutzen­den von Eval­u­a­tio­nen, die besagen, dass sie psy­chisch krank sind, auf ein­mal wieder für arbeits­fähig erk­lärt. Dafür reichte in einem Fall alleine die Anschuldigung eines ver­schmäht­en Möchte­gern­lieb­habers, dass die Betrof­fene nur simuliere.

Dies alles passiert unter dem Vor­wand, die Sozialver­sicherun­gen zu ent­las­ten. Ob dies glob­al wirk­lich erre­icht wird (im End­ef­fekt ist es ja egal, ob die Gesellschaft Men­schen über die IV oder die Sozial­hil­fe und die Krankenkassen finanziert), bezweifelt Dr. Brühlmeier Rosen­thal. Sie analysierte die Fälle aus ihrer Prax­is und den Prax­en von anderen Psy­chi­atern, die einen Frage­bo­gen von ihr aus­ge­füllt hat­ten. Das Resul­tat war erschüt­ternd: Es spielt sich eine ver­steck­te human­itäre Katas­tro­phe ab: Das Stre­ichen und Ver­weigern der IV führt nicht zu Erwerb­stätigkeit, wie gerne von rechts behauptet, son­dern zu Sozial­hil­fe, dem Ver­lust von geschütztem Erwerb, sozialer Aus­gren­zung, stark erhöht­en medi­zinis­chen Kosten und «sozialem Tod». Das ganze Elend kön­nen Sie hier nach­le­sen: https://saez.ch/de/article/doi/saez.2017.05254

Es funk­tion­iert also nicht. Statt Kosten zu sparen, wer­den Men­schen mar­gin­al­isiert und zusät­zliche Aufwände verur­sacht. Sowohl men­schlich­es Leid als auch ökonomis­ch­er Schaden wer­den ver­grössert. Warum also diese Aktion über­haupt machen? Ganz ein­fach: Es entspricht der poli­tis­chen Logik unser­er Zeit.

Wenn Leute bei tätlichen Angrif­f­en auf der Strasse nur zuse­hen, statt einzu­greifen oder wenig­stens Hil­fe zu holen, sind sie in etwa so, wie die gle­ichgültige, bre­ite Gesellschaft beim Quälen und sozialen Töten von Men­schen mit psy­chis­chen oder neu­rol­o­gis­chen (Schmerz­pa­tien­ten) Prob­le­men. Es ist die Logik ein­er Gesellschaft, die besagt, dass alle anderen der Feind von einem sind. Kommt dazu, dass nach neolib­eraler Logik der/die Schwache aus­gelöscht gehört – ist dies doch nichts anderes als ein hip gemachter Sozial­dar­win­is­mus.

Diese Men­schen­ver­ach­tung braucht dann nur noch mit dem Stig­ma der psy­chis­chen Erkrankung ver­mis­cht zu wer­den. Denn «der/dem sieht man ja gar nichts an!» ist eine jen­er unsag­bar blö­den und grausamen Aus­sagen, welche diesen Men­schen unter­stellt, nur so zu tun, oder «sich nicht zusam­men­zunehmen». Ja, da wird jovial gesprüchelt, dass jed­er schon mal einen schlecht­en Tag gehabt habe, aber das haue einen nicht um, und ähn­liche Dummheit­en.

Dabei weiss jede Fach­per­son und alle, die je mit solchen Men­schen zu tun gehabt haben, dass diese Lei­den wed­er mit starkem Willen noch mit guten Worten besiegt wer­den kön­nen. Das Einzige, was helfen kann, sind pro­fes­sionelle Behand­lung und ein sicheres Umfeld, welch­es die Angst nicht noch ver­grössert, die der tägliche Begleit­er dieser Kranken ist.

Die IV und die beglei­t­en­den Mass­nah­men sor­gen genau für diese Sicher­heit, welche ver­hin­dert, dass die Angst und Isolierung nicht noch gröss­er wer­den. Und genau das gilt es nun wieder wegzunehmen. Denn krank und – in der Logik viel­er bürg­er­lich­er Poli­tik­er – damit auch schwach zu sein, gehört bestraft. Und wenn schon nicht mit dem Tod (ach ja, die gute Zeit der Euthanasie wird sich­er von so manchem IV-Beschnei­der ver­misst), dann wenig­stens mit dem Absturz in die Vere­len­dung.

Diese Poli­tik ist Sadis­mus und Ausleben von Gewalt gegen jene, die sich nicht wehren kön­nen. Als Resul­tat wer­den im Tri­umph die tief­er­en Kosten für die IV präsen­tiert. Höhere Behand­lungskosten, Sozial­hil­fezahlun­gen und das men­schliche Elend wer­den natür­lich ver­schwiegen.

Für Nach­schub an Kranken ist gesorgt: Das immer rauere Umfeld im Arbeits­markt, das Aus­mustern älter­er Mitar­bei­t­erIn­nen, das schnelle Hir­ing und Fir­ing sor­gen dafür, dass sich Arbeit­nehmerIn­nen nicht mehr sich­er fühlen, sie eigentlich ständig um das Auskom­men für sich und ihre Fam­i­lie besorgt sein müssen – der ide­ale Nährbo­den für Angst­störun­gen.

Ja, unsere Gesellschaft hat ein Prob­lem. Aber das sind nicht die Schwachen und Schwäch­sten. Son­dern jene «Starken», die sich nicht schade sind, genau jene Men­schen zu ver­teufeln, auszu­gren­zen und zu quälen, die sich ohne­hin nicht wehren kön­nen.