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Wer oder was

Von Peter J. Betts — Wer oder was steuert die Kul­tur? Vielle­icht wichtiger: Wen oder was steuert die Kul­tur? Gemäss Höh­len­malereien ran­nten unsere Vor­fahren in Fell gehüllt dem Bison nach. Oder umgekehrt? Der Schritt vom Sub­jekt zum Objekt kön­nte bisweilen lebensentschei­dend sein. Die Mam­muts in Las­caux schon aus­gestor­ben? Warum sind diese Jäger oder Gejagten an die Höh­len­wand ger­at­en? Die Höh­le war übri­gens kein Dauer­aufen­thalt­sraum. Kult? Kun­stsinn? Poli­tik? Reli­gion? Darüber gibt es Speku­la­tio­nen. Im Früh­mit­te­lal­ter hat­te bei Porträts die Per­spek­tive fast nichts zu suchen. In den wun­der­schö­nen ägyp­tis­chen Fresken auch nicht. Warum? Bewusstes Ver­mei­den der Per­spek­tive? Die Men­schen waren damals sich­er nicht blöder als heute. Bei Tier­grup­pen­darstel­lun­gen in der Chau­vet-Höh­le, sie gel­ten als die ältesten in Europa, sieht man übri­gens so etwas wie eine räum­liche Darstel­lung ein­er Tier­gruppe. Bewusste räum­liche Gestal­tung? Warum? Die Erfind­ung der Per­spek­tive wird in die europäis­che Renais­sance ver­wiesen. Gab es sie in der Antike nicht? Und wo bleibt die Per­spek­tive in der Konkreten Kun­st, wie sie etwa vor achtzig Jahren for­muliert wurde? Dort ging es unter keinen Umstän­den um materielle Real­itäten, auch nicht in abstrak­ter Form, son­dern um das pure Mate­ri­al­isieren von Geistigem. Damals, in den Dreis­siger­jahren, war in der Malerei das ganze Alpha­bet der real­is­tisch-räum­lichen Darstel­lung längst von vorn nach hin­ten und von hin­ten nach vorn in allen Vari­anten aus­buch­sta­biert wor­den. Man musste wieder ein­mal radikal orig­inär sein wollen. Aus-ser­dem waren die immer real­is­tis­ch­er wer­den­den Entwick­lun­gen in der Fotogra­phie bere­its so weit fort­geschrit­ten, dass sich minu­tiöse Schw­er­ar­beit an der Staffelei durch einen Dreis­sig­s­telsekun­den­klick auf Sta­tiv erset­zen liess. Und wichtiger: die Men­schen hat­ten gel­ernt, Real­ität aus der zwei­di­men­sion­alen Drei­di­men­sion­al­ität her­aus zu lesen. Umdenken war ange­sagt? Übri­gens: Es gab, wie René Gar­di erzählte, noch in den Sechziger­jahren Stämme von Men­schen im Urwald, die ihr eigenes Porträt in ein­er «guten» Fotogra­phie nicht wieder­erkan­nten. Ob es sie heute noch gibt? Machen sie alle 3‑D-Videogames auf dem Bild­schirm? Oder haben sie sonst­wie das Zeitliche geseg­net? «Think big!», riet Andy Warhol. Von aktuellen gross­for­mati­gen Bildern eines anderen US-Kün­stlers, irgend­wo zwis­chen Natur­darstel­lung und Abstrak­tion, behauptet die Ausstel­lungs­macherin, die Ideen seien zwar nicht mehr ganz taufrisch, ver­möcht­en aber nach wie vor zu faszinieren. Zeitkon­form muss eine Kün­st­lerin oder ein Kün­stler heute nach Wet­tbe­werb­stauglichkeit und Selb­stop­ti­mierung streben. Die Bildende Kun­st wird aber hier nur als Beispiel miss­braucht um – vielle­icht – den bei­den ein­gangs gestell­ten Fra­gen näher zu rück­en. In den Sechziger­jahren trug meine erste Ehe­frau stolz wun­der­schön glänzende, haut­far­bene (wenn auch in leicht gebräunter Ver­sion), glat­te Nylon­strumpfho­sen. Das Zeital­ter der Strümpfe mit Stumpfgurt war schon seit eini­gen Jahren vor­bei; tem­porär, natür­lich. Eines Tages sah sie beim Einkaufen eine Frau in haut­far­ben­er Nylon­strumpfhose, mit bläulich­er Zeich­nung darauf, wohl Blät­ter und Blüten, ein­er Art Spitzen­dekor. Mit­tags schilderte sie mir das Erleb­nis: «… schöne Beine, mit schön­er Nylon­strumpfhose, aber mit schwär­zlich­er Zeich­nung darauf. Abscheulich! Sah aus wie Kramp­fadern!» Natür­lich hat­ten mich sel­ber die kramp­fader­ar­ti­gen Strumpfho­sen wed­er pos­i­tiv noch neg­a­tiv berührt: ich schaute nach wie vor auf die Beine. Dar­win lässt grüssen? Während der näch­sten paar Tage schilderte sie mir immer wieder solch schreck­liche Begeg­nun­gen. Dann fol­gten die Schilderun­gen sel­tener. Eines Mor­gens sah ich, als sie ihre Strumpfhose anzog, dass diese mit ein­er Art Spitzen-Druck, mit bläulich-schwär­zlichen Blu­men und Blät­tern verziert war. Ich gab mein­er Ver­wun­derung Aus­druck. Sehr ruhig sah sie mich sehr mitlei­dig an: «Aber Liebling, das ist doch das Nor­mal­ste der Welt!» Schla­gar­tig und nach­haltig hat­te ich begrif­f­en, was das Wort «nor­mal» bedeutet. Die Norm. Das Nor­male. Nor­mal­ität. Über die Fol­gen dieser uner­warteten Ein­sicht in den Sechziger­jahren denke ich noch heute nach. Prägt die Mode die Kul­tur? Wer prägt denn die Mode? Die Wer­bung. Wer prägt die Wer­bung? Die Bedürfnisse der Wirtschaft. Wer prägt die Bedürfnisse der Wirtschaft? Demoskopis­che Analy­sen. Und so weit­er und so fort. Oder prägt die Kul­tur die Mode? Auch hier fol­gt der Rat­ten­schwanz. Mode, Wer­bung, Wirtschaft, Demoskopie sind eben­so Teile der Kul­tur wie Macht­streben, Poli­tik, Börsenseele, Reli­gion, Geld­w­ert, Kun­st, Verkehr, Sin­nge­bung, Erneuerungssucht, Kon­ser­vatismus, Gewin­n­max­imierung, Streben nach unbe­gren­ztem Wach­s­tum, Kon­sumge­sellschaft, Armut in der «ersten» UND der «drit­ten» Welt, Joggen und Heim­train­er als Lebensin­halt, «das Boot ist voll»-Mentalität, Glob­al­isierung­ster­ror, Kul­tur­poli­tik als tauglich­es Instru­ment im Wet­tbe­werb um Stan­dortsvorteile und so weit­er und so fort. Die sein­erzeit­ige Def­i­n­i­tion des Kul­turbe­griffes des Europarates lautete: «Kul­tur ist alles, was dem Indi­vidu­um erlaubt, sich gegenüber der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufind­en, alles, was dazu führt, dass der Men­sch seine Lage bess­er begreift, um sie unter Umstän­den verän­dern zu kön­nen.» Der Staat­srat des Kan­tons Wal­lis hat diese Def­i­n­i­tion 2007 als Aus­gangspunkt in sein­er «Poli­tik der Kul­tur­förderung» ver­wen­det (gestützt auf das Kul­tur­förderungs­ge­setz von 1997), und ihr Inhalt war auch die Grund­lage für das Konzept der Stadt Bern von 1996. Diese Def­i­n­i­tion hat­te ihre Gültigkeit für die Mal­en­den in Las­caux oder in der Chau­vet-Höh­le, die offiziellen Grün­der der «Konkreten Kun­st», für Andy Warhol, die Begeg­nung mein­er ersten Ehe­frau mit jenen Nylon­strümpfen im den Sechziger­jahren, hat sie für die Kul­tur­poli­tik in den Städten Zürich und Bern, die Finanzs­trate­gen der Gross­banken, die Befür­wor­terIn­nen eines Minarettver­botes. Nur: die Inhalte sind kaum je ver­gle­ich­bar. Das Nor­male hat immer ein anderes Gesicht. Und dieses andere Gesicht wird erst noch von unter­schiedlichen Per­so­n­en unter­schiedlich gele­sen. Wann wird eine Idee zu ein­er Mode? Wer erken­nt die Ideen hin­ter jen­er Mode? Wovon wer­den deren Schöpferin­nen und Schöpfer ges­teuert? Warum wird jene Mode plöt­zlich ein­träglich? Warum ist sie plöt­zlich spur­los ver­schwun­den? Wann ist sie wieder als totale Neuheit da? Wann wird Unge­heuer­lichkeit zur Norm? Natür­lich gibt es «Zeit­strö­mungen» … Kun­st ist jene Malerei, die die höch­sten Geld­sum­men erwirtschaftet, selb­st wenn kein Men­sch ein paar Jahre später weiss, wo oder wer die Per­son ist, die das Werk geschaf­fen hat? Kun­st eine Kap­i­ta­lan­lage? Kun­st ist jene Malerei, die über Jahrhun­derte hin­weg bei Betra­ch­t­en­den kaum in Worte zu fassende, tiefe Gefüh­le weckt? Ein Gedicht ist ein Kunst­werk, wenn es mich bei der Lek­türe erschüt­tert oder erfreut oder mein Denken nach­haltig verän­dert? Und es ist kein Kunst­werk, wenn ich ihm in ein­er völ­lig anderen Geis­tesver­fas­sung begeg­net bin und es mich kalt lässt? Oder bin ein­fach ich ein­mal sen­si­bel und ein anderes Mal vertrot­telt? Und was hat das mit dem Gedicht an sich zu tun? Bin ich das Mass seines Wertes? Ist das Gedicht Mass meines Wertes? Schön wäre es, seine Lage immer wieder neu zu begreifen, um sie, wenn nötig, verän­dern zu kön­nen. Schön zu begreifen, welchen Anteil ich an der von mir wahrgenomme­nen Real­ität habe. Schön, zu erfahren, was die eben wahrgenommene Real­ität aus mir macht? Irgend­wie, scheint mir, sind wir wieder bei der Frage ange­langt, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war. Nun, wie auch immer die Antwort aus­fällt: es gibt (noch) Hüh­n­er und Eier. Ist es wirk­lich so wichtig, ob man Sub­jekt oder Objekt ist? Selb­st wenn es lebensentschei­dend sein sollte?

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2013

 

Artikel online veröffentlicht: 26. Juli 2019