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Wer sich nicht

Von Peter J. Betts - «Wer sich nicht an den Tisch set­zt, läuft Gefahr, auf dem Teller zu lan­den», so fidel – sin­ngemäss aus ein­er Tageszeitung zitiert – der neueste Mas­si­mo Leader von «Die Post», «La Poste», «La Pos­ta» (gemäss den Gel­ben Seit­en des Nach­schlagew­erkes dieses auf Kom­mu­nika­tion spezial­isierten Betriebes hat sich etwa die vierte Lan­dessprache zwis­chen Stuhl und Bank geset­zt – oder ist auf dem Teller gelandet?). Wollen Sie tele­fonisch von ein­er der «Post­beamtin­nen» (mit einem Mann bin ich bish­er noch nie ver­bun­den wor­den) wis­sen, wie denn «Die Post» auf Rätoro­man­isch heisst, kommt die fre­undliche Antwort, dafür sei sie nicht zuständig, hier werde nicht gedol­metscht. Wenn Sie insistieren und sagen, Sie gin­gen davon aus, »Die Schweiz­er­post» unter der Num­mer 0848 88 88 88 sei doch sich­er wenig­stens in der Lage zu kom­mu­nizieren, wie ihr auf Kom­mu­nika­tion spezial­isiert­er Betrieb in der vierten Lan­dessprache heisse, wird Ihnen (noch immer höflich) mit­geteilt, es gebe ja noch eine fün­fte und sech­ste Lan­dessprache(?!), von denen könne man unmöglich alle berück­sichti­gen, und im Übri­gen wird Ihnen ein schön­er Tag gewün­scht und das Gespräch abge­brochen. Mir so am Dreikönigstag wider­fahren. Bleibt mir als Trost die Dro­hung, das Gespräch sei vielle­icht «zu Aus­bil­dungszweck­en aufgeze­ich­net wor­den». Kurz nach Wei­h­nacht­en wollte ich auf die Post­stelle Hin­terkap­pe­len anrufen, um zu fra­gen, ob auch in diesem Jahr die Aktion «zweimal Wei­h­nacht­en» noch nicht wegra­tional­isiert wor­den sei (wie sein­erzeit die Aktion: alte Tele­fon­büch­er sam­meln und den Erlös für das Alt­pa­pi­er der Berghil­fe zukom­men lassen) und ob, falls noch immer aktuell, ich etwas mehr als in der vorhan­de­nen Schachtel Platz gehabt hat­ten, brin­gen könne. Nun, die Adresse der Post­stelle ist im Tele­fon­buch verze­ich­net. Nicht die Tele­fon­num­mer … Dafür «Die Schweiz­er­post» mit oben angegeben­er Num­mer. Ich rufe an, warte das Instruk­tion­ston­band geduldig ab, drücke auf Taste 5, vernehme, ich werde gle­ich mit einem kom­pe­ten­ten Mitar­beit­er(?) ver­bun­den. Die Dame meldet sich. Ich bitte sie um die Tele­fon­num­mer in Hin­terkap­pe­len. Diese könne sie mir nicht sagen, aber sie könne mich verbinden. Ich bitte darum. Sie könne dies aber nur tun, falls ich ihr mit­teile, warum ich mit der Post­stelle tele­fonieren wolle; ob es sich vielle­icht gar um eine Pri­vat­sache han­dle? Ich stutze einen Moment, sage dann, ich sei zwar Pri­vatkunde und möchte deshalb mit mein­er Post­stelle sprechen. Sie bedauert. Ich bedau­re auch und sage, ich würde halt hin­fahren, um mich per­sön­lich zu erkundi­gen. Wir ver­ab­schieden uns voneinan­der höflich. Die nette Tele­fon­stimme als diskrete Cam­ou­flage der knall­harten Kon­troll­beamtin? Meine Anfrage kön­nte ja Fol­gen für die Post­stelle haben … Ich hätte mich in den Hin­tern beis­sen mögen, weil mir zum Abschluss unseres höflichen Gesprächs nicht in den Sinn gekom­men war – schliesslich hätte es auch hier die Chance gegeben, dass das «Gespräch zu Aus­bil­dungszweck­en aufgeze­ich­net» wor­den wäre – zu sagen, Herr Leuen­berg­er von der ober­sten Heeresleitung werde sich­er hocher­freut sein, dass ihr «Dienst-nach-Vorschrift-Ver­hal­ten» mich zu erhöhtem CO2-Ausstoss ver­führt habe. Das gle­iche Departe­ment. Ungle­iche Pri­or­itäten. Für Polit­pres­tige nicht ver­w­ert­bar. Für Polit­polemik auch nicht. Aber der Aufhänger dieses Textes ist ja nicht Post­fi­nanz, nicht Post­l­o­gis­tik, nicht eine andere flächen­deck­ende lukra­tive Postak­tiv­ität, son­dern ein Herr, der sich gerne an den Tisch set­zt, um zu ver­hin­dern, dass er auf dem Teller lan­det. Wer dabei auch immer son­st ger­ade ver­heizt oder ander­swie ver­w­ertet wer­den mag, ist egal. Es ist das sin­ngemäss widergegebene Zitat des Her­rn Béglé, des neuen Ver­wal­tungsrat­spräsi­den­ten des Gel­ben Riesen (Stand: 6. Jan­u­ar 2010). In der Zeitung, der das obige «Zitat» ent­nom­men wird, wird die Mei­n­ung geäussert, wonach es sich beim fide­len Mas­si­mo Leader um einen «ehrgeizigen Ego­ma­nen» han­dle, ausser­dem wird geschildert, wie er im Aus­land wichtige Posten erhal­ten habe, die ihm aber bald ent­zo­gen wor­den seien. Eine Chance für jene, die in der Post noch immer einen Betrieb sehen möcht­en, dessen ober­ste Pri­or­ität Kom­mu­nika­tion, Dienst an der Gesellschaft wäre? Im «Bund» vom 6. Jan­u­ar umschreibt dann Rita Flubach­er den Ver­wal­tungsrat­spräsi­den­ten mit: «Ein Mann mit Ambi­tio­nen». Er habe sich offen­bar im Rah­men der Über­nahme des Ver­wal­tungsrat­sprä­sid­i­ums beim ober­sten poli­tis­chen Ver­ant­wortlichen erkundigt, ob er nicht gle­ich neben dem Ver­wal­tungsrat­sprä­sid­i­um die Konz­ern­leitung übernehmen könne. Da dies aus for­malen Grün­den offiziell nicht möglich ist, find­et offen­bar Herr Béglé Mit­tel und Wege, in der Real­ität seinen Wun­sch zu konkretisieren: geeignete Wahl des Konz­ernchefs, Kri­tik­er oder Kri­tik­erin­nen im Ver­wal­tungsrat, die den Schleud­er­sitz benutzen. Vielle­icht wollen auch sie nicht auf dem Teller lan­den usw.? Erfolg gle­ich Ver­nicht­en, wenn möglich Ein­ver­leiben allfäl­liger Geg­n­er oder deren ander­weit­ig finale Ver­w­er­tung als Maxime? Nun, die Kul­tur des Kan­ni­bal­is­mus ist auch unter Men­schen nicht ganz neu, oft zwar durch Not­la­gen begrün­det. Per­sön­lich halte ich sie so oder so eher für etwas unap­peti­tlich, auch wenn sie zunehmend unserem Zeit­geist entsprechen mag und zunehmend in manchen Erschei­n­ungs­for­men zum All­t­ags­bild gehört. Sie passt etwa zum Ratio­nal­isieren durch Per­son­al­ab­bau in «Prof­it­cen­ters»: bei Pfle­gen­den in Spitälern, bei Post­boten, Post­stellen; bei Briefkästen; zum Fahrver­hal­ten der Piloten in Autos der Express-Post, von Post­l­o­gis­tics usw.. Passt auch zunehmend zur All­t­agsprax­is im Wirtschaft­sleben über­haupt. Erster Akt ein­er nicht erfun­de­nen Geschichte: Einem Abteilungschef wird am Fre­itagabend bei der Betrieb­s­feier auf offen­er Bühne seine 35-jährige Tätigkeit für den Betrieb vor allen gelobt und über­schwänglich ver­dankt, es wird ihm eine gute Flasche Wein in die Hand gedrückt und beim Hän­de­schüt­teln bestätigt, er habe seine Leis­tung immer opti­mal erbracht, und all dies unter her­zlichem Applaus aller Anwe­senden. Zweit­er Akt: Am Mon­tag­mor­gen find­et der Abteilungsleit­er einen Brief auf dem Pult, die Mit­teilung, dass er sofort freigestellt wird. Drit­ter Akt: Der Abteilungsleit­er, ganz offen­sichtlich auf dem Teller gelandet, vielle­icht auch, weil er nie an den (Verhandlungs)Tisch gebeten wor­den war, packt möglichst unauf­fäl­lig seine pri­vat­en Sachen ein, über­legt, wie er das Ganze sein­er Frau, seinen erwach­se­nen Kindern beib­rin­gen soll, schreibt allen Kol­legin­nen und Kol­le­gen ein E‑Mail zum Abschied, schle­icht beschämt und ohne Wort davon – ein frei(ge-stellt)er Mann mit virtuellem Abschied­sritu­al. Die Kol­legin­nen und Kol­le­gen hal­ten den Mund. Sie ban­gen alle um ihre Stelle. Die Kul­tur des Kan­ni­bal­is­mus passt dur­chaus auch zu Geschehnis­sen im öffentlichen Bere­ich. Rudolf Strahm ist etwa den Prak­tiken von heim­lichen Prof­i­teurIn­nen und diskreten Absah­ner­In­nen der «Zweit­en Säule» nachge­gan­gen: «… Wer weiss schon als Ver­sichert­er (in der Schweiz sind es über fünf Mil­lio­nen Men­schen), dass ihm oder ihr die Pen­sion­skasse durch­schnit­tlich 770 Franken Ver­wal­tungskosten pro Jahr ver­rech­net? (die AHV zum Ver­gle­ich: 25 Franken pro Per­son). … Die Pen­sion­skassen-Ver­ant­wortlichen (begrün­den) die finanzielle Not­lage der Kassen mit der Über­al­terung der Bevölkerung und den gesunke­nen Kap­i­talerträ­gen.» Vorgeschobene Gründe und selb­stver­schuldet, meint Strahm: durch exor­bi­tante Ver­wal­tungskosten und Fehlspeku­la­tio­nen mit riskan­ten Anlagegeschäften an der Börse. Dann zeich­net er minu­tiös die üblen Prak­tiken, auch im Hin­blick auf die kom­mende Abstim­mung, auf: «… In der Schweiz ist solche Inter­essensverquick­ung völ­lig legal; ander­swo würde sie als insti­tu­tionelle Kor­rup­tion gel­ten …» («Der Bund» 5. Jan­u­ar 2010, Seite 8). Ein weites Feld für drin­gen­den Hand­lungs­be­darf von Kul­tur­poli­tik: weg von der Verquick­ung von City­mar­ket­ing und Förderung des Kul­turschaf­fens hin zum Ver­such, durch Kreativ­ität unsere Gesellschaft (wieder?) weniger kan­ni­balisch und etwas men­schlich­er (?) zu gestal­ten, hin zu inhaltlich­er Sub­stanz, auch jen­seits von Pres­tigegewinn.

ensuite, Feb­ru­ar 2010

Artikel online veröffentlicht: 7. Oktober 2018