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“Wer, über längere Zeit betrachtet”

Von Peter J. Betts - Wer, über län­gere Zeit betra­chtet, jede Woche fünf bis sechs Tage im Ate­lier ver­bringt, dort täglich drei bis zehn Stun­den (ver­suchen Sie das ein­mal!) auf pro­fes­sionelle Art an Bildern arbeit­etet, auf härteste Weise darum ringt, immer wieder den Stil zu verbessern, immer wieder neue, rel­e­vante, weit­er­führende Aus­sagen zu machen, (allfäl­lige) Betra­ch­t­ende zum Dia­log mit dem Betra­chteten zu zwin­gen, rezen­sierte Ausstel­lun­gen durch­führt und auch Bilder verkauft, aber nach Abzug der Kosten für das tägliche Leben, die Mieten für Ate­lier und Woh­nung, für Mate­r­i­al und Arbeitsspe­sen in der Steuer­erk­lärung keinen Geldgewinn nach­weisen kann, arbeit­et nicht, son­dern frönt ein­er Lieb­haberei. So sehen es die Steuerämter. So sehen es die Gerichte, die diese Sichtweise der Steuerämter stützen. Wovon lebt die Malerin oder der Maler über­haupt? Natür­lich, der Lebenspart­ner — ein Zah­narzt oder Bürolist vielle­icht — oder die Lebenspart­ner­in – eine Putzfrau oder Forscherin an der Uni­ver­sität oder Sach­bear­bei­t­erin in einem Amt — ver­wen­det sein oder ihr Einkom­men, damit ihre oder seine kün­st­lerische Arbeit über­haupt erst möglich wird. Aber in sein­er oder ihrer Steuer­erk­lärung kann auch er oder sie die Kosten für das tägliche Leben, die Mieten für Ate­lier und Woh­nung, für Mate­r­i­al und Arbeitsspe­sen der Kün­st­lerin oder des Kün­stlers nicht abziehen: Offen­bar ver­di­ent der Lebenspart­ner oder die Lebenspart­ner­in so gut, dass er/sie sich den Luxus ein­er Müs­sig­gän­gerin oder eines Müs­sig­gängers mit kosten- und zeitaufwändi­ger Lieb­haberei leis­ten kann. Er hält sie aus, wie in landläu­figer­er Form eine Mätresse. Sie hält ihn aus, wie in gängiger­er Form einen Lustkn­aben. So sehen es die Steuerämter. So sehen es die Gerichte, die diese Sichtweise der Steuerämter stützen. Denn: Nur Geld hat Wert. Der Rest ist Luxus, falls es keinen Anreiz für Speku­la­tion darstellt. Und ein solch­er Anreiz beste­ht unab­hängig von ein­er kün­st­lerischen Qual­ität, einem kün­st­lerischen Wert. Dass sich zwei (warum nicht Liebende), bei­de kun­st­be­sessen und mit dem Traum, das per­fek­te Kunst­werk entste­hen zu lassen, zusam­men­tun: Du malst, ich ver­di­ene unseren Leben­sun­ter­halt, und diese Formel ermöglicht Kun­st, das über­steigt das Vorstel­lungsver­mö­gen von Steuerämtern und Gericht­en. Denn: Nur Geld hat Wert, nicht als Werkzeug, um Wertvolleres entste­hen zu lassen, son­dern für sich allein. Kun­st ist schon wertvoll, das sehen auch Steuerämter und Gerichte ein, dann näm­lich, wenn der/die Autor/in, für das gemalte Bild vielle­icht ein paar Tausender eingestrichen hat (natür­lich ver­s­teuert), DANN aber der Han­del und die Speku­la­tion zu spie­len begonnen haben, bis ein/e «Anleger/in» ein paar Mil­lio­nen Franken an die durch Überwachungskam­eras gesicherte Pri­vat­wand hän­gen kann. In Form eines Bildes, durch alle Ver­di­enen­den im «Zwis­chen­han­del» ver­s­teuert. Glück. Im diskret gesicherten Eigen­heim. Im Steuer­amt. Bei den Anwäl­ten, die sich um einen anderen Ver­lauf bemüht oder den eingeschla­ge­nen gebah­nt hat­ten. Dabei wird überse­hen, dass die zwei Per­so­n­en, die einan­der ursprünglich das Entste­hen des Werkes (und viel­er nicht verkaufter Bilder) ermöglicht­en, eigentlich zusät­zlich eine heute auch staatliche Auf­gabe erfüllen: Den Dia­log zwis­chen Kul­tur­förderungsin­stanzen (zum Beispiel die Putzfrau) und zu fördern­den Kul­turschaf­fend­en (zum Beispiel dem Maler und Tief­druck­er) mit allen Kon­se­quen­zen zu führen, alle Risiken bezüglich der erre­icht­en oder nicht erre­icht­en Ziele zusam­men zu übernehmen und dabei aber die «Kul­tur­bud­gets» des Staates scho­nen. Des gle­ichen Staates, dessen Steuer­amt und Gerichte ver­hin­dernd in den gesellschafts­fördern­den Prozess ein­greifen. Die rechte Hand weiss nicht, was die linke tut — als Grund­prinzip für die «öffentlichen Hände»? Nun, Vere­ini­gun­gen, Gesellschaften, Organ­i­sa­tio­nen von Kul­turschaf­fend­en, zum Beispiel die «Gesellschaft Schweiz­erisch­er Bilden­der Kün­st­lerin­nen» (gsbk), die 2009 ihr hun­dertjähriges Beste­hen feiert (wenn auch unter dem Namen GSMBK oder «Gesellschaft Schweiz­erisch­er Malerin­nen, Bild­hauerin­nen und Kun­st­gewerb­lerin­nen», respek­tive dann GSBK: «Gesellschaft Schweiz­erisch­er Bilden­der Kün­st­lerin­nen» gegrün­det), kön­nten oder müssten sich beispiel­sweise eigentlich die Auf­gabe stellen, solche als legal deklar­i­erten Missver­hält­nisse zu ändern. Wie? Dahin­ter würde viel Überzeu­gungsAR­BEIT steck­en; es gälte etwa, ein riesiges Net­zw­erk von Beziehun­gen aufzubauen, mit der Auflage, dass jed­er geknüpfte Knoten eigen­ständig wieder ein Netz mit ähn­lich­er Funk­tion­sweise «auf­baut» – und dass all diese Net­ze gemein­sam genutzt wür­den. Das hier skizzierte Mod­ell kann auch als Schnee­ball­ef­fekt beze­ich­net wer­den. Förderungsstellen für das Kul­turschaf­fen, kan­tonale wie kom­mu­nale oder regionale ein­er­seits und die Steuer­be­hör­den von Gemein­den, Gemein­de­ver­bän­den, Kan­to­nen ander­seits haben wider­sprüch­liche Ziele und meinen damit, ein­er und der­sel­ben Ein­rich­tung zu dienen. Die einen, indem sie Geld nach ihren Förderungskri­te­rien aus­geben, damit für alle Leute – jet­zt und in Zukun­ft — in Kan­ton, Gemein­de­ver­bän­den, Gemein­den (und weit darüber hin­aus) ein Schatz an kul­turellem Erbe nach­haltig wach­sen kann; die anderen, indem sie von allen Geld ein­nehmen, das – zu einem sehr beschei­de­nen Teil – die Ersteren möglichst wirkungsvoll aus­geben kön­nen. Die Effizienz der Kul­tur­aus­gaben wird jedoch durch die let­zteren effizient ver­hin­dert. Deshalb: Die rechte Hand weiss nicht, was die linke tut — als Grund­prinzip für die «öffentlichen Hände». Dieses Grund­prinzip funk­tion­iert nicht nur für die Mit­glieder der sgkb. Bei Schrift­stel­lerin­nen, die beispiel­weise aus dem städtis­chen Lit­er­aturkred­it einen Werk­beitrag zuge­sprochen erhal­ten haben, dominieren ähn­liche Mech­a­nis­men wie bei den Malerin­nen. Bei Tänz­erin­nen auch. Und bei Filmemacherin­nen, Musik­erin­nen und so weit­er. Auch wenn in der Schweiz Bildende Kün­stler als meines Wis­sens erste sich — irgend­wie als Berufsver­bände gew­erkschaftlich organ­isiert haben, heisst das doch nicht, dass es, schon aus der beschriebe­nen Prob­lematik für alle her­aus, nicht sin­nvoll wäre, wenn Filmerin­nen, Malerin­nen, Schrift­stel­lerin­nen, Musik­erin­nen, Tänz­erin­nen und so weit­er gemein­sam an diesen Net­zw­erken bauen soll­ten – und warum eigentlich nicht zusam­men mit den Kul­tur­abteilun­gen (das Wort ist ja auch weib­lichen Geschlechts)? Nicht nur sehr viel Arbeit für die Ver­bände wäre gefragt, son­dern vor allem auch Sol­i­dar­itäts­bere­itschaft. Auch für die sgbk – warum nicht als Ini­tiantin? Jemand muss ja anfan­gen. Hun­dert Jahre Bedenkzeit kön­nten als Anlauf­szeit, das Jubiläum als Katalysator ver­standen wer­den.

Sol­i­dar­ität bei Kun­stschaf­fend­en? Das IST ein Prob­lem. Ich erin­nere mich, wie mich sechs Kün­st­lerin­nen gebeten hat­ten, im Hin­blick auf ihre Grup­pe­nausstel­lung für jede einen Text für die Ausstel­lungs­broschüre zu schreiben. Obwohl ich jede der Kün­st­lerin­nen und ihre Arbeit recht gut kan­nte, besuchte ich selb­stver­ständlich jedes Ate­lier, liess mir die neueren Werke zeigen, die Auswahl für die Ausstel­lung, disku­tierte über kün­st­lerische Posi­tio­nen und per­sön­liche Anliegen – halt wie man das so macht. Ich liess die neu gewonnenen Ein­sicht­en im Ver­gle­ich zu dem, was ich schon vorher zu wis­sen geglaubt hat­te, durch den Kopf gehen und set­zte mich hin­ter die Schreib­mas­chine, gab frist­gerecht das Manuskript ab. Natür­lich hat­te ich Proteste erwartet und war bere­it, Missver­ständ­nisse zu ver­ste­hen ver­suchen und den Text gegebe­nen­falls zu verän­dern. Und ich erhielt von fünf Damen Proteste. Aber nicht inhaltlich und aus­sagemäs­sig: Jede warf mir vor, dass der Text zu ihrem Schaf­fen kürz­er war als bei ein­er der anderen. (Ver­gle­ich­bares ist mir auch mit Män­nern passiert.) Dabei hat­te es sich bei durch­schnit­tlich sechzig Zeilen um ein bis drei Zeilen Dif­ferenz gehan­delt. Bei allen hat­te ich ver­sucht, alles mir Wichtigscheinende zu sagen – und das hat­te ungle­ich viel Platz beansprucht. Sol­i­dar­ität bei Kun­stschaf­fend­en? Ein Prob­lem. Keineswegs nur bei Frauen oder nur in der Bilden­den Kun­st. Wirk­lich nicht. Dabei wäre diese Sol­i­dar­ität heute wichtiger als je.

Eine Über­legung mag das Ver­ständ­nis des Sachver­haltes vielle­icht fördern: Ohne die Raubzüge der Renais­san­cepäp­ste gäbe es wohl die bekan­nten Werke Michelan­ge­los nicht. Jed­er Kün­stler – Kün­st­lerin­nen waren offiziell rar – war auf einen Mäzen angewiesen. Eine «staatliche Kul­tur­förderung» gab es nicht. Je bedeu­ten­der der Mäzen, desto bedeu­ten­der der Kün­stler und seine Werke, min­destens in den Augen des Mäzens und in jenen des Kün­stlers. Welch­er Kün­stler hätte einen Kol­le­gen und Konkur­renten zum Fut­tertrog geführt? Wenige ris­sen sich um die spär­lichen Abfälle der Erfolge von Mächti­gen. Aber heftig. Der Tanz der Aas­geier ist zur bes­tim­menden Chore­ografie gewor­den, bis in unsere Zeit hinein. Selb­st wenn dieser Erk­lärungsver­such nur eine Spur von Richtigkeit birgt: Zur Prob­lem­lö­sung trägt er nicht bei. In den Kul­tur­abteilun­gen aller staatlichen Ebe­nen sind die finanziellen Mit­tel sehr beschränkt und die Gesuchs­flut nimmt zu; die ausser­staatlichen Mäzene – wenn auch nicht die Raubzüge – nehmen zunehmend ab. Ander­seits: Die Ein­sicht, dass nur Sol­i­dar­ität der Kul­turschaf­fend­en zur Verbesserung der Ver­hält­nisse aller führen kann, müsste ihre Ver­bände motivieren. Kul­tur wird gemäss Europarat wie fol­gt definiert: «Kul­tur ist alles, was dem Indi­vidu­um erlaubt, sich gegenüber der Welt, der Gesellschaft, und auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufind­en, alles, was dazu führt, dass der Men­sch seine Lage bess­er begreift, um sie unter Umstän­den verän­dern zu kön­nen.» Kul­tur ist also der Weg­weis­er für die Men­schen, wie sie sich ver­hal­ten, wie sie ver­ste­hen und han­deln kön­nten. Alles, was nicht Natur ist – aber im Ein­klang mit ihr. Die Kün­ste sind ein wichtiger Teil des Weg­weis­ers. Und alles, was mit kün­st­lerisch­er Arbeit im Zusam­men­hang ste­ht, das «Kul­turschaf­fen» also. Da der Rohstoff der Kul­turschaf­fend­en Phan­tasie ist und deshalb die Auseinan­der­set­zung mit ihren orig­inären Pro­duk­ten wiederum schöpferische Phan­tasie weckt, eignen sich diese Pro­duk­te beson­ders gut als wichtiger Teil des Weg­weis­ers, sind für die Gesellschaft­sen­twick­lung oft sog­ar entschei­dend; und weil Kul­turschaf­fende in der Regel schon von der Art ihrer Arbeit her kaum das Leben­snotwendi­ge in Form von Geld ver­di­enen, eracht­en die öffentlichen Hände es für notwendig, das Kul­turschaf­fen und Kul­turschaf­fende zu unter­stützen und zu fördern. Dabei geht es nicht um Pres­ti­geob­jek­te und Wet­tbe­werb­svorteile beispiel­weise einzel­ner Städte, son­dern um die Pro­duzentin­nen und Pro­duzen­ten von leben­snotwendi­ger geistiger Nahrung für alle, um das Human­isieren des All­t­ags. Warum bauen Kul­turschaf­fende nicht ein sin­nvolles Sol­i­dar­itätsver­hält­nis auf mit den öffentlichen Kul­tur­förderungsstellen in gegen­seit­igem Inter­esse – jen­seits von der Chore­ografie der Aas­geier? Auch hier sind Ver­bände von Kün­st­lerin­nen und Kün­stlern gefragt. Auch hier kön­nte die Jubi­lar­in sgbk vor­ange­hen.
Sol­i­dar­ität. Vor hun­dert Jahren set­zten in der Schweiz Kün­st­lerin­nen ein Zeichen dafür, dass, wie seit dem Beginn der Men­schheits­geschichte, schöpferische Gestal­tungskraft nicht ein­fach Män­ner­sache ist und grün­de­ten die GSMBK, heute die sgbk. Noch vor zwanzig Jahren galt es in den Kun­stkom­mis­sio­nen als selb­stver­ständlich, dass pro­fes­sionell mal­ende Män­ner durch die Tätigkeit ihrer Frauen in die Lage ver­set­zt wur­den, Kün­stler zu sein. Der Lohn der Lehrerin oder der Putzfrau oder der Forscherin an der Uni­ver­sität oder der Sach­bear­bei­t­erin in einem städtis­chen Büro wurde ver­wen­det, damit Kun­st entste­hen kon­nte. Der Maler, der Kupfer­stech­er, der Bild­hauer waren als Kün­stler anerkan­nt – ob sie verkauften oder nicht. Mann und Frau: eine Pro­duk­tion­sein­heit. Eine Zah­narzt­frau, die dur­chaus pro­fes­sionell orig­inäre, qual­i­ta­tiv bedeu­tende Gemälde pro­duzierte, blieb selb­stver­ständlich eine mal­ende Haus­frau. Eine Haus­frau in die GSMBA («Gesellschaft schweiz­erisch­er Maler, Bild­hauer und Architek­ten» heute «vis­arte») aufnehmen? Wo käme Mann da hin? Manch­mal sind glück­licher­weise schon damals bisweilen Pan­nen passiert. Glück­licher­weise scheint sich heute die Män­ner­welt so weit emanzip­iert zu haben, dass Mann nicht mehr meint, ern­stzunehmende Kun­st werde auss­chliesslich von Män­nern geschaf­fen. Kom­pon­istin­nen, Schrift­stel­lerin­nen, Filmerin­nen, Malerin­nen und so weit­er wer­den als gle­ich­w­er­tig anerkan­nt. Endlich ist man so weit, die Qual­ität der Arbeit zu werten und nicht das Geschlecht der Pro­duzieren­den. Wäre es langsam nicht an der Zeit, anstatt geschlechts­bes­timmte Ver­bände neu solche zu bilden, die die Inter­essen aller Kul­turschaf­fend­en verträten – auch das auss­er-
halb der Chore­ografie der Aas­geier. Auch das: sol­i­darisch mit den Kul­turämtern. Auch das unter Wahrung indi­vidu­eller und beru­flich­er Unter­schiede, aber mit gebün­del­tem Ein­satz für gemein­same Inter­essen – im Inter­esse aller, der Kun­stschaf­fend­en und der ganzen übri­gen Gesellschaft. Das feier­liche Hun­dert­jahrju­biläum als Aus­gangspunkt für eine gemein­same Reise in die Zukun­ft? Ob auch hier die sgbk vor­ange­hen kann?

Foto: zVg.
ensuite, März 2009