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Werbung: die einzig wahre Amtssprache

Von Lukas Vogel­sang - Ich bin entrüstet: Wir alle ken­nen diese lästi­gen Wer­bezeitun­gen, welche uns täglich in den Briefkas­ten gesteckt wer­den und welche wir ohne zu lesen aufs Alt­pa­pi­er knallen. Zum Glück gibt es die Werbestopp-Kle­ber. Doch bewahre: Genau diese wer­den jet­zt auss­er Gefecht geset­zt. Die Post sucht weit­ere Geldquellen und bietet ver­mehrt die Werbe­dis­tri­b­u­tion über den Pöstler an. Denn per­son­ifizierte Wer­bung muss in den Briefkas­ten — mit oder ohne Werbestopp-Kle­ber. Das sei ihr Auf­trag, kon­tert die Post und zählt die ein­genomme­nen Frän­kli. Doch das ist nochmals eine ganz andere Geschichte.

Der Stadt­bern­er «Anzeiger» wurde bish­er durch Verträgeror­gan­i­sa­tio­nen verteilt. Diesen Mitar­bei­t­erIn­nen kon­nte man prob­lem­los mit­teilen, dass man die Wer­bezeitung nicht wün­sche — mit Respekt wurde dieser Wun­sch berück­sichtigt. Zugänglich war diese Zeitung immer für alle, wenn man wollte. Doch der Bern­er «Anzeiger» will jet­zt plöt­zlich mehr.

Als eine der einzi­gen Zeitun­gen in der Schweiz druckt der «Anzeiger» zweimal die Woche 140‘000 Exem­plare — wohlwis­send, dass jew­eils nur 110‘000 LeserIn­nen den «Anzeiger» wahrnehmen. Über den Dau­men wer­den also 60‘000 Zeitun­gen pro Woche direkt fürs Alt­pa­pi­er pro­duziert — das entspricht unge­fähr zwölf Pal­let­ten Zeitun­gen. Der Rest fol­gt zwei Minuten später ins Alt­pa­pi­er, nach dem Durch­blät­tern. Unter dem Deck­man­tel «Amts­blatt», dessen Inhalt in der Gesam­taus­gabe (also Stadt- und Region­sanzeiger) mit allen Gemeinde-News nicht mehr als zehn Seit­en Platz ein­nimmt, füllt der «Anzeiger» den Rest der 32 Seit­en mit 22 Seit­en Wer­bung und dies im Namen der Stadtregierung. Der Bern­er «Anzeiger» ver­spricht auf sein­er Web­seite: «Dieses wird als einziges Organ zu 100 % an alle Haushal­tun­gen, Fir­men und Ver­wal­tun­gen kosten­los verteilt.» So, so. Das klingt doch gar nach miss­brauchtem Amt­sauf­trag, denn dieser Satz ste­ht unter Wer­bung für die Wer­bung und nicht bei den amtlichen Mit­teilun­gen ist also nur ein Verkauf­sar­gu­ment.

Per Fest­tagskarte, schlicht und unsicht­bar, informierte der Bern­er «Anzeiger» kurz vor Wei­h­nacht­en die Bevölkerung mit ein­er üblen Para­graphen­samm­lung über den neuen Zus­tand: Ab 2008 gibt es kein Entrin­nen mehr — auch SIE wer­den den «Anzeiger» lesen müssen! Der Geschäfts­führer Christof Ram­seier schreibt in ein­er Stel­lungsnahme: «… ist der Anzeiger Region Bern das amtliche Pub­lika­tion­sor­gan der Stadt Bern und der beteiligten Ver­bands­ge­mein­den (Art. 17 Pub­lika­tion­s­ge­setz, PuG, BSG 103.1). Auf­grund sein­er amtlichen Funk­tion ist er zwin­gend sämtlichen Haushal­ten im Ver­bands­ge­bi­et kosten­los zuzustellen (Art. 6 Abs. 2 Verord­nung über die Amt­sanzeiger, AnzV, BSG 103.21). Im Rah­men der geset­zlichen Vor­gaben enthält der Anzeiger Region Bern im nich­tamtlichen Teil ver­schiedenar­tige Beiträge, Inser­ate und Wer­bung. Entsprechen­des gilt für die Beila­gen (vgl. zum Ganzen Art. 7 ff. AnzV).» Im Klar­text: Not­falls wird uns der Bern­er «Anzeiger» per Infu­sion einge­führt. Eine Beschw­erdead­resse liess man kluger­weise gle­ich weg — wohlwis­send, dass die Berner­in­nen nicht mehr im 18. Jahrhun­dert ste­hen und im Jahr 2008 mit fünf Gratiszeitun­gen pro Tag nicht mehr hin­ter dem Mond leben. Irri­tierend bleibt der Umstand, dass die Anzeigerverord­nung bere­its seit 1993 gilt — aber bish­er keine solchen Kamp­fansagen zu hören war… Geht es dem Bern­er «Anzeiger» finanziell so schlecht, dass er uns mit pöst­lerisch­er Gewalt seine Exis­tenz aufzwin­gen will?

Eines ist klar: Mit der amtlichen Infor­ma­tion hat die ganze Geschichte nichts zu tun. Ich habe in meinen 35 Jahren den «Anzeiger» noch nie wegen amtlichen Mit­teilun­gen benutzt oder ver­misst. Vor vielle­icht 15 Jahren suchte ich noch die Woh­nungsin­ser­ate durch — doch diese sind durch die effizien­teren und aktuelleren Inter­net­di­en­ste abgelöst wor­den. Wenn heutzu­tage die Hochwasser­sire­nen erklin­gen, ren­nen wir nicht zum Amts­blatt, son­dern müssen das Radio ein­schal­ten. Lustiger­weise ist noch nie­mand auf die Idee gekom­men, ein Radio pro Haushalt per Zwangsverord­nung der Bevölkerung aufzuzwin­gen. Würde doch Sinn machen: Die BILLAG (Radio- und Fernse­hge­bühren) hät­ten ihre helle Freude daran, die Radios­teuer kön­nte man direkt den Steuern anrech­nen.

In vie­len Gesprächen und Recherchen in den let­zten Monat­en haben sich die Ver­ant­wortlichen in und um den Bern­er «Anzeiger» ein­heitlich und klar dazu geäussert, dass man diese Anzeigeverord­nung nicht so genau nehme. Dies vor allem in Hin­sicht auf die pub­lizis­tis­chen Regeln (auss­er amtliche Mit­teilun­gen und Anzeigen darf der «Anzeiger» streng genom­men nichts Schriftlich­es enthal­ten…). Die Ver­ant­wortlichen spekulieren absichtlich und wil­lentlich: Man weiss, dass zu Beginn sich ein paar Stim­men wehren wer­den, danach wird es ruhig und die Ein­wände sind vergessen. Vergessen ist zum Beispiel, dass die im Okto­ber neu ges­tartete «Bern­er Kul­tur­a­gen­da» wegen der redak­tionellen Beiträge streng genom­men nicht dem «Anzeiger» beigelegt wer­den darf. Doch wer will schon Anzeige erheben? Wer möchte ein solch­es Pro­jekt ver­hin­dern? Genau das ist der Punkt.

Doch unter diesen Umstän­den braucht dieses Land Beschw­er­den: Anzeiger Region Bern, Post­fach, 3001 Bern oder info@anzeigerbern.ch. Gegen die Wer­be­flut empfehlen wir einen Blick auf die schön zusam­mengestellte Liste auf unser­er Web­seite (www.ensuite.ch) oder zum Schluss den klas­sis­chen Pöstler­witz: Kaufen Sie sich einen bis­si­gen Hund!

Aus der Serie Von Men­schen und Medi­en
Car­toon: www.fauser.ch
ensuite, Jan­u­ar 2008

Artikel online veröffentlicht: 19. Oktober 2017