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Werte, die

Von Frank E.P. Diev­er­nich — Lexikon der erk­lärungs­bedürfti­gen All­t­agsphänomene (XXIV): Wenn es ein Unwort in Organ­i­sa­tio­nen gibt und derzeit Hochkon­junk­tur hat, dann sind es Werte. Gesteigert wird dieser Unfug dann noch, wenn man Werte mit dem Wort Man­age­ment kom­biniert. Damit wird jedoch Gestalt­barkeit aus­ge­drückt – ein ganz beson-
der­er Wert des ökonomisch-tech­nis­chen Zeital­ters. Die Wahrheit ist eine andere. Die Werte-the­ma­tisierung ist näm­lich ein Zeichen dafür, dass man nicht mehr weit­er weiss.

Das Wertephänomen stellt nichts anderes dar, als eine rhetorisch abgedichtete und als mod­ern wirk­ende Vari­ante ein­er Sta­bil­ität­sil­lu­sion, die im Kon­text sich rasch verän­dert­er Organ­i­sa­tio­nen stat­tfind­et, ohne dabei die Organ­i­sa­tion nach-haltig zu tang­ieren. Zudem ste­ht es für den kom­mu­nika­tiv­en Ver­such, jen­er Men­schlichkeit einen Ort zu geben, für die es anson­sten in Organ­i­sa­tio­nen keinen Platz mehr gibt. Werte sind kom­mu­nika­tiv gese­hen sozusagen das Zucker­brot, während der Affe der Organ­i­sa­tion unge­hin­dert die Peitsche schwingt. Die Werte­diskus­sion inner­halb von Organ­i­sa­tio­nen ist als eine men­schliche «Gegen­be­we­gung» zur selb­st­ges­teuerten und abstrakt ablaufend­en Organ­i­sa­tion­skom­mu­nika­tion zu begreifen. Diese näm­lich beste­ht aus Entschei­dun­gen, aus funk­tionaler Organ­i­sa­tion­skom­mu­nika­tion, aus Kom­mu­nika­tio­nen, die von Rol­len­trägern der Organ­i­sa­tion abgeson­dert wer­den, aus Kenn­zahlen­sys­tem­atiken, die sich mit­tler­weile selb­st kom­mu­nizieren, ohne dass da noch ein einzel­ner Men­sch wirk­lich dazwis­chen­funken kön­nte. Abge­lenkt und geblendet wird dieser Men­sch, in dem er sich und in dem man ihm die Werte­diskus­sion vorhält, mit dem er meint, er könne durch Werte die Organ­i­sa­tion zäh­men. Mit Sicher­heit nicht! Und vielle­icht doch wenig­stens sich selb­st? Das schon mal gar nicht!

Da die heuti­gen Organ­i­sa­tio­nen sich zunehmend hyper­ven­tilierend um sich selb­st drehen und nicht ersichtlich ist, wie man für einen kleinen Moment Langsamkeit und Stille in das ganze Gefüge bekom­men soll, wirkt der kom­mu­nika­tive Ver­weis auf den Wert, wie ein Zeitverzöger­er, wie ein klein­er Unter­brech­er, wie der Ver­such, Reflex­ion an ein­er Stelle einzuführen, wo das Sys­tem schon voll in Fahrt gekom­men ist. Die The­ma­tisierung von Werten ist als Zeichen dafür zu sehen, dass man an kein­er anderen Stelle des organ­i­sa­tionalen Operierens (z.B. in deren Entschei­dung­sprozesse) in der Lage war, den Anker zu wer­fen und «Stopp» zu sagen. Werte im Rah­men ein­er Organ­i­sa­tion zu the­ma­tisieren stellt also lediglich den Ver­such dar, sie zur Rede zu stellen, was sie da eigentlich macht, weil man es selb­st nicht mehr ver­ste­ht – oder das was man ver­ste­ht für unge­heuer­lich hält und eigentlich nicht glauben kann und will. Es ist das Indi­vidu­um, welch­es sich als Hil­f­skon­strukt eine Wert­ede­bat­te bastelt, um damit sich der Illu­sion hingeben zu kön­nen, über etwas Mächtigeres zu ver­fü­gen, als über die Entschei­dungslogik der Organ­i­sa­tion, die den Men­schen, wenn über­haupt, dann nur als Medi­um für ihre Selb­stre­pro­duk­tion braucht.

Und wie sieht es mit den Werten der Organ­i­sa­tion aus? Organ­i­sa­tio­nen haben einen Eigen­wert und der hat mit dem Kon­text zu tun, in dem sie agieren. Das Wertesys­tem der Organ­i­sa­tion ist das Koor­di­naten­sys­tem des jew­eili­gen gesellschaftlichen Funk­tion­ssys­tems, in dem es primär ver­ankert ist. Das ist meis­tens und zunehmend das ökonomis­che Sys­tem von Zahlun­gen und Nicht-Zahlun­gen. Der organ­i­sa­tionale Grundw­ert ist die bedin­gungslose Anschlussfähigkeit. Das Wertesys­tem ist der Strang ihrer Entschei­dung­shis­to­rie, an die sich zwangsläu­fig die neuen Entschei­dun­gen aus­richt­en müssen. Das Wertesys­tem der Organ­i­sa­tion sind ihre Kenn­zahlen, nach denen sich die Entschei­dun­gen richt­en. Und bei all dem bleibt der Men­sch mit seinen Werten aussen vor. Zwar kann er der Organ­i­sa­tion ein Wertege­wandt drüber stülpen, jedoch ist das par­a­sitär, weil die Organ­i­sa­tion sich nur so lange damit schmückt, wie ihre Oper­a­tions­fähigkeit davon nicht beein­trächtigt ist. Und der Men­sch selb­st wird eben­falls zum Par­a­sit, da er sich durch den organ­i­sa­tionalen Werteanstricht anzo­gen und sich so lange der Organ­i­sa­tion verpflichtet fühlt, so lange er die Imag­i­na­tion aufrechter­hält, dass diese mit seinen Werten etwas zu tun haben.

Wenn also die The­ma­tisierung von Werten als Ret­tungsanker der Selb­stfind­ung auf Ebene der Indi­viduen zu ver­ste­hen ist, dann kann die Idee ja gar nicht so schlecht sein, dass es da Coach­ing-Ange­bote gibt, welche dazu dienen, bei sich selb­st anzukom­men. Jedoch würde sehr wahrschein­lich die Stille eines Klosters, die Med­i­ta­tion oder ein langer Spazier­gang in einem wohlriechen­den Früh­lingswald oder das Beten eben­falls das gle­iche bewirken, will man sich wieder spüren und mal in aller Stille der Frage nachge­hen, wer man glaubt zu sein, will man sich doch endlich mal wieder «ganz» fühlen. Zusam­menge­fasst und im Kon­text unser­er Organ­i­sa­tio­nen bedeuten diese «Kon­tem­pla­tionsver­suche» nichts anderes, als den Ver­such ein­er Unter­brechung. Es geht um die Abkop­pelung vom Zeit- und Eigen­wert­sys­tem der Organ­i­sa­tio­nen. Es geht darum, Emanzi­pa­tion zurück­zugewin­nen. Endlich wieder mit sich selb­st spie­len, anstelle Spiel­ball zu sein. Es geht um gepflegte Onanie.

Die andere Per­spek­tive auf das Werte­coach­ing hinge­gen führt direkt in die Hölle der Verzwei­flung, da sie uns sug­gerieren will, dass es einen sta­bilen Kern von uns selb­st geben muss, den es zu ent­deck­en gilt, und der uns dann das Gefühl geben kön­nte, dass wir uns wieder mit uns selb­st vere­inen kön­nen. Sug­gerieren uns die Organ­i­sa­tio­nen ständig, dass unser aktueller Stand der Flex­i­bil­ität und Verän­derungs­bere­itschaft nie aus­re­icht, um den Wan­de­lak­tiv­itäten und dem Ide­al­w­ert der Verän­derungs­fähigkeit nachzukom­men (der Men­sch als Män­gel­we­sen), so sig­nal­isiert uns das Werte­coach­ing auf dem gegenüber­liegen­den Pol, dass wir der­art ent­fremdet von uns sind, also Ver­lorene, Unsta­bile, die endlich wieder zu ihrem Kern find­en müssen (also auch hier der Men­sch als Män­gel­we­sen). Das Zeital­ter des Kon­struk­tivis­mus legt uns nahe, bei­de Seit­en unberührt, ja vielle­icht sog­ar angeekelt liegen zu lassen. Viel eher soll­ten wir aushal­ten ler­nen, dass wir in Abhängigkeit der organ­i­sa­tionalen Kon­texte tat­säch­lich ver­schieden sind. Nicht ein Kern – nein poly­vari­ante Kerne liegen in uns. Wir haben in den unter­schiedlichen Kon­tex­ten unter­schiedliche Werte, die wir abrufen und zu denen wir uns sog­ar hinge­zo­gen fühlen. Nur der ein­seit­ig Verblendete kann heutzu­tage noch die Moralkeule schwin­gen und auf Uli Hoe­ness zeigen, die Prax­is hinge­gen zeigt, dass man Atom­kraftwerke bauen, Kinder­ar­beit fördern, Steuern hin­terziehen kann und zeit­ver­set­zt gle­ichzeit­ig Son­ntags an die Men­schen­liebe und an die Gemein­schaft als Grundw­ert in der Kirche appel­lieren respek­tive glauben kann.

Wir fassen zusam­men: Werte sind als gesellschaftliche Ein­wand­funk­tion gegen Organ­i­sa­tio­nen zu ver­ste­hen, die als As aus dem Ärmel nur von den Indi­viduen gezo­gen wer­den kön­nen. Will Coach­ing in diesem Feld tat­säch­lich etwas bewe­gen, ohne in das naive Main­stream-Wertegesäusel abzu­driften, dann nur, wenn es nicht zu Werten coacht, son­dern zum Mut, gegen die Über­ma­cht von Organ­i­sa­tio­nen, trotz dem ersten Gefühl der Sinnlosigkeit, die Stimme zu erheben. Der Ein­wand muss uns das wert sein.

*bewirtschaftet von frank.dievernich@hslu.ch vom Com­pe­tence Cen­ter Gen­er­al Man­age­ment der Hochschule Luzern.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013

Artikel online veröffentlicht: 31. Juli 2019