Von Lukas Vogelsang – Für mich ist das Jahr schon zu Ende. Dieser Zustand hat etwas Beruhigendes: Kein Weihnachtsstress, sondern nur friedliches Bummeln und bei der Arbeit abschliessen, was noch zu erledigen ist. Nach diesem Jahr brauche ich das auch. Und gibt es ein Fazit? In Sachen Kulturberichterstattung ist in diesem Jahr viel gelaufen. Zum Einen hat ensuite selber tüchtig zugelegt und im Umfang, Redaktion, Vertrieb, aber auch in der Präsenz im Ausland. Das hat selbst mich erstaunt, doch erhalten wir mehr und mehr Anfragen aus aller Welt. Zum Anderen hat sich aber in der Schweizer Presselandschaft auch viel in Sachen Kultur getan: Einerseits tut es gut, dass In Bern DER BUND seinen Kulturteil ausgebaut hat, andererseits wurde klar in anderen Kulturteilen abgebaut. Sichtbar ist vor allem die Popularisierung der Feuilletons, die noch stärker geworden ist. Kulturdiskussionen werden in der Presse nur noch polemisch geführt, Gesellschaftsfragen werden kaum noch in den Leseraum gestellt. Jede Podiumsdiskussion, welche Kultur & Medien als Thema führt, wird hauptsächlich von VeranstalterInnen besucht – der Rest, die KünstlerInnen und das Publikum bleiben solchen Veranstaltungen mehrheitlich fern.
Der Abbau führt natürlich unweigerlich zu einem Zusammenrücken: VeranstalterInnen gruppieren sich und geben ihre eigenen Publikationen heraus. Aus ihrer Sicht ist das Werbung, Werbematerial. In diesem Jahr haben so Olten und Aarau ihre eigenen Kulturmagazine gestartet. Saiten aus St. Gallen, die Programmzeitung in Basel, das Kulturmagazin Luzern funktionieren schon seit Jahren durch solche Zusammenschlüsse oder Interessegemeinschaften. Ein neues Phänomen baut sich zusätzlich durch die Kulturämter an: So haben Biel, Thun, Solothurn Kulturmagazine aufgebaut, die alleine durch die öffentliche Hand finanziert werden. In Bern haben wir immer noch die Berner Kultur-agenda, die eine Art Zwitter-Lösung zwischen öffentlicher Hand und einer Interessegemeinschaft darstellt, mit dem Fakt, dass ohne die öffentliche Hand nie eine Berner Kulturagenda zustande gekommen wäre. Zürich will wie Bern zusätzlich zum ensuite – kulturmagazin ein eigenes Magazin aufbauen. Es scheint zum guten Ton zu gehören. Ich denke nicht, dass sich in Zukunft die Tagesmedien vertiefter in die Themen der Kultur einlassen werden. Wirtschaftlich ist «Kultur» nicht interessant – aber Fun, Lifestyle und Glamour bringt Geld ein.
Wenn wir nur in Bern die momentane Auflage von Kulturpublikationen pro Woche zusammenrechnen, so kommen wir auf die unwahrscheinliche Zahl von 1.5 Millionen, natürlich nur, wenn wir BZ und BUND miteinrechnen (ohne Blick und 20Minuten und ohne Fernsehen). Bei einer Bevölkerung von ungefähr 250‘000 (bei vergrössertem Einzugsgebiet), bei einer Leserschaft von Druchschnittlich ca. 2 Personen pro Papier, heisst dies, dass im Schnitt pro Person und Woche 12 Mal eine Kulturpublikation in die Hand genommen wird (mehr als 1.7 Mal pro Tag!). Wow. Aber auch ohne die Tageszeitungen sind wir bei einer Zahl von knapp 150‘000 Exemplaren (300‘000 LeserInnen) – wobei nur der Bewegungsmelder und ensuite explizit als Kulturmagazine gelten: ca. 7‘500 Exemplare (15‘000 LeserInnen) pro Woche. Das sind doch interessante Zahlen, oder? Wie war das nochmals: Gemäss Statistik interessiert sich nur fünf Prozent der Bevölkerung für Kulturelles?
Das ist natürlich nicht sehr präzise, wirft aber ein Licht auf die Sache. Aber kann mir jetzt jemand erklären, wo genau zu wenig «Kulturberichte» publiziert werden? Oder warum die öffentliche Hand immer noch das Gefühl hat, dass ihre eigenen Publikationen, durch Steuergelder bezahlt, in diesem Meer von Papier mithalten können? Vor allem: Die Publikationen der Kulturämter beschränken sich oftmals auf die reine Publikation von Kulturwerbung und Agenden, und sind weit entfernt, Meinungsbildend zu sein. Schlussendlich: Warum kämpfen Kulturinstitutionen, darunter auch die Kinos, bei dieser Werbeflut, um Publikum? Da läuft was schief und, vor allem, am Publikum vorbei.
In einer ethnisch durchmischten Gesellschaft, wo Gesundheitswesen, Bildungswesen, Wirtschaft, Wohnplätze, Arbeitsplätze, Verkehr, Ökologie, Politik, Recht, vielen unterschiedlichen und individuellen Ansprüchen genügen müssen, hat sich auch unsere kulturelle Wahr-nehmung so stark verändert, dass der «Spiegel der Gesellschaft» matt geworden ist. Mein Jahresfazit ist deswegen, dass wir die Begriffe der Kultur deutlicher denn je verloren haben. Wir sind Kulturblind geworden. Ich hoffe, dass wir im nächsten Jahr darin wieder etwas Licht oder zumindest ein Ziel finden. Von selbst wird sich nichts verändern. Das ist die Erkenntnis aus dem Individualisierungsprozess.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 96, Dezember 2010