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EDITORIAL Nr. 96: Wieder ein Jahr

Von Lukas Vogel­sang – Für mich ist das Jahr schon zu Ende. Dieser Zus­tand hat etwas Beruhi­gen­des: Kein Wei­h­nachtsstress, son­dern nur friedlich­es Bum­meln und bei der Arbeit abschliessen, was noch zu erledi­gen ist. Nach diesem Jahr brauche ich das auch. Und gibt es ein Faz­it? In Sachen Kul­turberichter­stat­tung ist in diesem Jahr viel gelaufen. Zum Einen hat ensuite sel­ber tüchtig zugelegt und im Umfang, Redak­tion, Ver­trieb, aber auch in der Präsenz im Aus­land. Das hat selb­st mich erstaunt, doch erhal­ten wir mehr und mehr Anfra­gen aus aller Welt. Zum Anderen hat sich aber in der Schweiz­er Pres­se­land­schaft auch viel in Sachen Kul­tur getan: Ein­er­seits tut es gut, dass In Bern DER BUND seinen Kul­turteil aus­ge­baut hat, ander­er­seits wurde klar in anderen Kul­turteilen abge­baut. Sicht­bar ist vor allem die Pop­u­lar­isierung der Feuil­letons, die noch stärk­er gewor­den ist. Kul­tur­diskus­sio­nen wer­den in der Presse nur noch polemisch geführt, Gesellschafts­fra­gen wer­den kaum noch in den Leser­aum gestellt. Jede Podi­ums­diskus­sion, welche Kul­tur & Medi­en als The­ma führt, wird haupt­säch­lich von Ver­anstal­terIn­nen besucht – der Rest, die Kün­st­lerIn­nen und das Pub­likum bleiben solchen Ver­anstal­tun­gen mehrheitlich fern.

Der Abbau führt natür­lich unweiger­lich zu einem Zusam­men­rück­en: Ver­anstal­terIn­nen grup­pieren sich und geben ihre eige­nen Pub­lika­tio­nen her­aus. Aus ihrer Sicht ist das Wer­bung, Werbe­ma­te­r­i­al. In diesem Jahr haben so Olten und Aarau ihre eige­nen Kul­tur­magazine ges­tartet. Sait­en aus St. Gallen, die Pro­gram­mzeitung in Basel, das Kul­tur­magazin Luzern funk­tion­ieren schon seit Jahren durch solche Zusam­men­schlüsse oder Inter­essege­mein­schaften. Ein neues Phänomen baut sich zusät­zlich durch die Kul­turämter an: So haben Biel, Thun, Solothurn Kul­tur­magazine aufge­baut, die alleine durch die öffentliche Hand finanziert wer­den. In Bern haben wir immer noch die Bern­er Kul­tur-agen­da, die eine Art Zwit­ter-Lösung zwis­chen öffentlich­er Hand und ein­er Inter­essege­mein­schaft darstellt, mit dem Fakt, dass ohne die öffentliche Hand nie eine Bern­er Kul­tur­a­gen­da zus­tande gekom­men wäre. Zürich will wie Bern zusät­zlich zum ensuite – kul­tur­magazin ein eigenes Mag­a­zin auf­bauen. Es scheint zum guten Ton zu gehören. Ich denke nicht, dass sich in Zukun­ft die Tagesme­di­en ver­tiefter in die The­men der Kul­tur ein­lassen wer­den. Wirtschaftlich ist «Kul­tur» nicht inter­es­sant – aber Fun, Lifestyle und Glam­our bringt Geld ein.

Wenn wir nur in Bern die momen­tane Auflage von Kul­tur­pub­lika­tio­nen pro Woche zusam­men­rech­nen, so kom­men wir auf die unwahrschein­liche Zahl von 1.5 Mil­lio­nen, natür­lich nur, wenn wir BZ und BUND mitein­rech­nen (ohne Blick und 20Minuten und ohne Fernse­hen). Bei ein­er Bevölkerung von unge­fähr 250‘000 (bei ver­grössertem Einzugs­ge­bi­et), bei ein­er Leser­schaft von Druch­schnit­tlich ca. 2 Per­so­n­en pro Papi­er, heisst dies, dass im Schnitt pro Per­son und Woche 12 Mal eine Kul­tur­pub­lika­tion in die Hand genom­men wird (mehr als 1.7 Mal pro Tag!). Wow. Aber auch ohne die Tageszeitun­gen sind wir bei ein­er Zahl von knapp 150‘000 Exem­plaren (300‘000 LeserIn­nen) – wobei nur der Bewe­gungsmelder und ensuite expliz­it als Kul­tur­magazine gel­ten: ca. 7‘500 Exem­plare (15‘000 LeserIn­nen) pro Woche. Das sind doch inter­es­sante Zahlen, oder? Wie war das nochmals: Gemäss Sta­tis­tik inter­essiert sich nur fünf Prozent der Bevölkerung für Kul­turelles?

Das ist natür­lich nicht sehr präzise, wirft aber ein Licht auf die Sache. Aber kann mir jet­zt jemand erk­lären, wo genau zu wenig «Kul­turberichte» pub­liziert wer­den? Oder warum die öffentliche Hand immer noch das Gefühl hat, dass ihre eige­nen Pub­lika­tio­nen, durch Steuergelder bezahlt, in diesem Meer von Papi­er mithal­ten kön­nen? Vor allem: Die Pub­lika­tio­nen der Kul­turämter beschränken sich oft­mals auf die reine Pub­lika­tion von Kul­tur­wer­bung und Agen­den, und sind weit ent­fer­nt, Mei­n­ungs­bildend zu sein. Schlussendlich: Warum kämpfen Kul­turin­sti­tu­tio­nen, darunter auch die Kinos, bei dieser Wer­be­flut, um Pub­likum? Da läuft was schief und, vor allem, am Pub­likum vor­bei.

In ein­er eth­nisch durch­mis­cht­en Gesellschaft, wo Gesund­heitswe­sen, Bil­dungswe­sen, Wirtschaft, Wohn­plätze, Arbeit­splätze, Verkehr, Ökolo­gie, Poli­tik, Recht, vie­len unter­schiedlichen und indi­vidu­ellen Ansprüchen genü­gen müssen, hat sich auch unsere kul­turelle Wahr-nehmung so stark verän­dert, dass der «Spiegel der Gesellschaft» matt gewor­den ist. Mein Jahres­faz­it ist deswe­gen, dass wir die Begriffe der Kul­tur deut­lich­er denn je ver­loren haben. Wir sind Kul­tur­blind gewor­den. Ich hoffe, dass wir im näch­sten Jahr darin wieder etwas Licht oder zumin­d­est ein Ziel find­en. Von selb­st wird sich nichts verän­dern. Das ist die Erken­nt­nis aus dem Indi­vid­u­al­isierung­sprozess.


Foto: zVg.

Pub­liziert: ensuite Aus­gabe Nr. 96, Dezem­ber 2010