Von Barbara Roelli — Diese Geschichte trägt sich in Wien zu, an einem verregneten Montagabend, an dem kein Hund freiwillig aus dem Haus geht. Der Regen nässt einem die Socken im Handumdrehen, auch wenn die Schuhe noch so imprägniert sind. Und der kalte Wind peitscht einem den Regen so fies ins Gesicht, dass man sich den Regenschirm wie einen Schutzschild vor die Brust halten muss. An jenem Abend also suchen sich zwei Touristen den Weg in ein Wirtshaus – ein sogenanntes Wiener Beisl – um sich dort in die Kunst des Wiener Schnitzels einführen zu lassen. Ihr Hunger und der Kampf gegen Nässe und Wind macht sie kraftlos. Umso mehr sind sie deshalb erleichtert, als sie ein beleuchtetes Schild entdecken mit der Aufschrift «Zu den 2 Liserln». Die zwei Touristen, ein Paar aus der Schweiz, zielen freudig auf die Gaststube zu, schütteln ihren Schirm aus und treten ein.
Der füllige Wirt, mit Halbglatze und glänzendem Teint, empfängt die beiden Gestrandeten. Das Lokal scheint bis auf den letzten Platz besetzt zu sein. Im hinteren Raum habe es noch Platz, schnautzt der Wirt, als die Schweizer nach einem Tisch fragen. «Ihr sprechens jo Erdensproch», bemerkt er und reicht dem Paar die Menükarte in Deutsch, sichtlich unter Zeitdruck stehend, da er einzig und alleiniges Servierpersonal ist. Die Schweizer setzen sich an einen runden Holztisch mit kleegrüner Tischdecke, darüber liegt eine kleinere weisse Decke mit Lochmusterung, durch die das Kleegrün leuchtet. Auf der weissen Decke erinnern gelbliche Flecken an die vorherigen Gäste. Das Paar studiert die Menükarte, fokussiert auf die Wiener Schnitzel. Da gibt es eine ganze Platte mit Wiener Schnitzel aus verschiedenem Fleisch und anderen Fleischspezialitäten – die wird für zwei Personen serviert. Schnell ist bestellt, und als erstes gibt es einen Humpen Bier.
Das Wiener Beisl erinnert an ein Vereinslokal von Jägern: Die Wände sind mit glänzenden Buchenholzlatten verkleidet, über den Tischen hängen Lampen mit Stoffschirmchen über den blendenden Glühbirnen. Die Klientel: zwei Wiener Freundinnen (sie kennen den Wirt persönlich), eine Familie aus England, ein junges Paar aus Italien, zwei Wiener Studenten (bevor sie ihre Schnitzel verdrücken, drücken sie auf ihren MacBooks herum). Dann kommt die Fleischplatte für die Schweizer. «Guten Appetit!», ruft der Wirt. Vor den beiden Schweizern türmen sich Wiener Schnitzel von der Leber, Wiener Schnitzel vom Schwein, Wiener Schnitzel von der Pute, Schweinsbraten, Selchfleisch (Rippli), faschierte Laibchen (kein Faschistenfleisch sondern «Hacktätschli»: Faschiertes = Hackfleisch). Und auf dem ganzen Berg Fleisch glänzt ein Würstel, von den Schweizern Wienerli genannt, in Österreich sind es Frankfurter. Das Paar lächelt sich zu – sich sicher, hier echte Wiener Schnitzel serviert zu bekommen – den Inbegriff der Wiener Esskultur. Die Frau schiesst zum Andenken noch ein Foto vom Gelage, den Beweis für all die Daheimgebliebenen. Dann fallen sie mit Heisshunger über den Berg her. Sie loben die knusprige Panade, die perfekt dünnen Schnitzel, nehmen einen Schluck Bier, prosten sich zu, küssen sich. Eine Viertelstunde später öffnet die Frau den Knopf ihrer Jeans. Der Mann tupft sich die Schweissperlen von der Stirn. Sie bestellen nochmals Bier. «Damit die Speisen besser runtergehen», bemerkt der Wirt verständnisvoll und bringt zwei weitere Humpen. Die Schweizer tragen je ein weiteres Schnitzel vom Berg ab, der nicht kleiner werden will. Irgendwann geben sie müde lächelnd auf. Die Wiener Schnitzeljagd ist beendet. Das Paar bezahlt, dankt und erkundigt sich nach dem Wetter, ob es denn besser wird morgen? «Es bleibt bescheiden», so der Wirt. Die mit Schnitzel gefüllten Schweizer spannen den Schirm auf, treten in die nasse Nacht hinaus und schieben sich satt durch die Wiener Gassen, vorbei am Westbahnhof, wo «Würstelmausi’s» Stand immer noch offen hat. Für alle Hungrigen dieser Stadt.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2012