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“Wir lassen uns nicht frozzeln!” — 100 Jahre Atonalität

Von Mariel Kreis — Über­all wer­den heuer Jubiläen der Meis­ter klas­sis­ch­er Musik gefeiert: Joseph Haydn, Hen­ry Pur­cell, Felix Mendelssohn Bartholdy, Georg Friedrich Hän­del. Und irgend­wo, vergessen, wartet auch die Atonal­ität, auf dass sie gefeiert wird. Ihren 100. Geburt­stag. Aber sie wartet wohl vergebens. Sie wartet eigentlich schon seit 100 Jahren vergebens auf ihre grosse Stunde. Denn rest­los begeis­tern kon­nte sie nie. Ein Blick zurück in die skan­dal­trächti­gen Wiener Jahre nach 1900.

Das Wiener Jahrzehnt um 1900 strotzt nur so vor Wan­del und Auf­bruch. In der Lit­er­atur provozieren Werke wie «Leut­nant Gustl» und «Reigen» von Arthur Schnit­zler, Maler wie Gus­tav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokosch­ka stellen Tabuthe­men wie Sex­u­al­ität, Homo­erotik und Geschlechterkampf in ihren Werken dar. Und Adolf Loos verur­sacht in Wien mit sein­er Fas­sadengestal­tung eines Haus­es am Michael­er­platz einen der größten Architek­turskan­dale der Geschichte.

In der Musik sind es die «jun­gen Wilden», allen voraus Arnold Schön­berg, die mit dem Zusam­men­bruch der Tonal­ität und der «Emanzi­pa­tion der Dis­so­nanz» nicht nur das Wiener Konz­ert­pub­likum aufrüt­teln. Mit ihrer Musik wollen sie den Zuhör­er aus der Selb­stzufrieden­heit auf­schreck­en. Für Schön­berg ist es der Zeit­punkt, in dem die Tonal­ität abgenutzt und ver­braucht ist und mit der tonalen Musik schon alles gesagt wurde. So dass alles weit­ere in seinen Augen nur noch klis­chee­haft wirkt. Schön­berg hat einen fes­ten Glauben daran, dass auf­grund der musikalis­chen Entwick­lung der Zeit­punkt gekom­men sei, an dem jemand einen Schritt weit­erge­hen muss; er sel­ber sieht sich als auser­wählt, diesen zu voll­streck­en. Die Atonal­ität erlaubt dem Kom­pon­is­ten ein Höch­st­mass an Frei­heit, welche aber gle­ichzeit­ig auch Regel­losigkeit mit sich zieht. Die ersten voll­ständi­gen atonalen Werke sind äusserst kurz, vor allem die Instru­men­tal­stücke, da ein klar­er Auf­bau in der Atonal­ität nicht mehr möglich ist und die Werke sehr kom­plex, dicht und abso­lut kom­prim­iert sind. Die dis­so­nante Dimen­sion, in welche die Neue Musik ein­dringt, ist von den gewohn­ten har­monis­chen Werken der grossen Spätro­man­tik­er weit ent­fer­nt.

Schön­bergs Weg in die Atonal­ität Arnold Schön­berg gilt als musikalis­ch­er Auto­di­dakt, er besuchte nie ein Kon­ser­va­to­ri­um. Keine Einen­gung, kein Drän­gen in eine bes­timmte Rich­tung, keine Indok­trinierung von Pro­fes­soren. Deshalb kann er inno­v­a­tiv und unbeschw­ert Neu­land erforschen. Doch erst nach ein­er Ban­klehre entschei­det der 21-Jährige, sich ganz der Musik zu wid­men. Sein erstes veröf­fentlicht­es Werk entste­ht 1889. Seine frühen Werke sind stark von den Meis­tern der Spätro­man­tik geprägt. Und doch polar­isiert er schon seit seinen Anfän­gen wie kein ander­er. Von seinen Anhängern wird er verehrt und bejubelt, von vie­len Kri­tik­ern zer­ris­sen und gedemütigt.

Als wichtig­stes Werk für den Über­gang von der Tonal­ität zur Atonal­ität ste­ht das zweite Stre­ichquar­tett von 1908. Als Gat­tung wählt Schön­berg ein Stre­ichquar­tett und wahrt somit den Anschluss an die musikalis­che Tra­di­tion. Während der Beginn des Quar­tetts noch solide und tra­di­tionell, die Tonal­ität schwebend, also noch nicht als gän­zlich aton­al beze­ich­net wer­den kann, schwenken die weit­eren Sätze in das völ­lig Neue. Dieses Werk ist sein­er Frau Mathilde gewid­met, die er kurz zuvor beim Liebesspiel mit einem gemein­samen Fre­und erwis­cht hat. Im zweit­en Satz ver­wen­det Schön­berg deshalb wohl auch die Melodie des Volk­sliedes «Augustin»: «Oh du lieber Augustin, alles ist hin. Geld ist weg, Mädl ist weg, Augustin liegt im Dreck.» Ab dem 3. Satz stösst eine Sopran-Stimme hinzu. Zu dieser Zeit erhitzt das die Gemüter des Pub­likums unge­mein. Der vierte Satz gilt als erster atonaler Satz der Musikgeschichte. Und schon die ersten Worte, die einem Ste­fan-George-Gedicht entsprin­gen, lassen erah­nen, wie das Neue zuschlägt: «Ich füh­le Luft von anderem Plan­eten».

Skan­dal­trächtige Jahre In den Jahren nach 1907 fol­gt ein Skan­dal dem anderen. Ein Kri­tik­er schreibt: «Wenn das über­haupt noch Musik ist, dann will ich nie wieder welche hören.» Ein ander­er emp­fiehlt: «Hät­ten sie doch nur falsch gespielt, dann hätte es vielle­icht richtig gek­lun­gen.» Aber die Urauf­führung des zweit­en Stre­ichquar­tetts über­trifft alles an bish­eri­gen Skan­dalen und endet in einem beispiel­losen Eklat. Das Pub­likum ist mit der Bru­tal­ität, mit der das Neue auf sie trifft, hem­mungs­los über­fordert. Dementsprechend hoch ist die Inten­sität des Protests. Die Zuhör­er zis­chen und pfeifen. Und rufen gegen die Bühne: «Nicht weit­ersin­gen! Schluss! Wir haben genug! Wir lassen uns nicht frozzeln!» Rei­hen­weise ver­lassen die Zuhör­er den Konz­ert­saal. Und auch die Medi­en hal­ten sich mit harsch­er Kri­tik nicht zurück: «Man glaubte eine ver­i­ta­ble Katzen­musik zu vernehmen», oder: «Ich habe ihn trotz sein­er vielfachen Beweise völ­lig unkün­st­lerischen Wesens immer noch für einen ger­aden Men­schen gehal­ten, der mis­er­able Musik machen muss, weil ihm eben keine bess­er ein­fällt».

Doch all diese Skan­dale hiel­ten ihn nicht davon ab, im Jahr 1909 mit den Klavier­stück­en op. 11 den begonnenen Weg in die Atonal­ität gän­zlich zu vol­lziehen. Dieses Werk geht als erstes voll­ständig atonales in die Musikgeschichte ein. Trotz der schar­fen Kri­tik und der Ablehnung des Pub­likums, die er zeitlebens auszuhal­ten hat­te, übt Arnold Schön­berg als Erneuer­er einen enor­men Ein­fluss auf die Musik des 20. Jahrhun­derts aus.

Foto: Arnold Schön­berg Cen­ter, Wien
ensuite, August 2009

Artikel online veröffentlicht: 3. September 2018