Von Karl Schüpbach — Mario Venzago beantwortet Fragen, persönliche, fachliche, auf Bern bezogene:
Maestro Venzago, Sie haben sich auf dem direktesten Wege in die Herzen des Berner Publikums dirigiert und interpretiert. Dazu entbiete ich Ihnen die herzlichsten Glückwünsche. Der Versuch, Sie Ihren Berner Konzertgästen näher zu bringen erübrigt sich. Wenn ich Sie einlade, die folgende Frage zu beantworten, bedeutet dies die Bitte nach einer Zugabe: welches künstlerische Ereignis, welche Konzerte oder Persönlichkeiten haben Sie in Ihrer bisherigen Laufbahn besonders geprägt?
Mit 21 Jahren, noch während meines Musikstudiums in Zürich, hat mich das Radio der italienischen Schweiz als Pianist angestellt. Ich durfte dort mit vielen großen Solisten und Sängern musizieren, die jeweils alle ohne ihren eigenen Begleiter anreisten; wir probten am Morgen, und meist am späten Nachmittag wurde alles live gesendet oder aufgezeichnet. Besonders beeindruckte mich der dortige Chorleiter, Edwin Loehrer, der gleichermaßen kompetent Werke der Renaissance und Stockhausens und der Moderne aufführte. Lugano besaß damals den einzigen professionellen Konzertchor der Schweiz.
Dort bin ich auch den Geigern Hans Heinz Schneeberger, Tibor Varga, Sandor Vegh, Sängern wie Boris Christoph, Ernst Häfliger und den Sängerinnen Maria Stader, Barbara Martig-Tüller, Verena Gohl, den Dirigenten Sergiu Celibidache, Franco Ferrara und Mario Rossi und halt allem, was damals Rang und Namen hatte, am Klavier direkt begegnet. Seither liebe ich es – nun halt in der Funktion eines Dirigenten – zu begleiten, und es gibt für mich fast nichts Bewegenderes, als neben Genies wie Gidon Kremer oder Thomas Zehetmair oder dem jungen Nicolas Altstaedt zu stehen, erraten zu dürfen, was sie bewegt und ihnen mit meiner Kunst zu ermöglichen, sich optimal zu verwirklichen. Meine Aufgabe (und nur diese) erlaubt mir, ganz in solche Menschen und Künstler hineinsehen zu dürfen. Dann spüre ich, dass ich im Dienste der Musik stehe und weiß, warum ich das alles tue, das Reisen, das von zu Hause weg sein und den ganzen sonstigen «Chrampf».
Falls dank Sponsoren die nötigen Geldmittel vorhanden sind, welche Künstlerpersönlichkeiten möchten Sie besonders gerne nach Bern einladen?
Zunächst möchte ich gewisse Herzensprojekte nach Bern bringen. Noch dieses Jahr werden wir die 6. Bruckner aufnehmen. Damit wird das Orchester in mein Großprojekt, alle Bruckner Sinfonien auf CD zu bringen, integriert. Ich träume von der Schubert Oper «Fierrabras» und Glucks «Armide», für die ich internationale Sänger brauche. Ich möchte, dass LangLang, der mit mir in Amerika sein Debut gab, nach Bern kommt. Dafür suche ich eine Firma oder einen leidenschaftlichen Privatier, denn aus öffentlichen Geldern ist das nicht zu finanzieren. Es ist nicht unbedingt eine musikalische Sensation, mehr ein Phänomen, ein gesellschaftliches Event, das halt auch einmal nach Bern gehört. Ich möchte Gidon Kremer haben, Frank Peter Zimmermann, Hilary Hahn, Radu Lupu, Christine Schaefer, und vor allem Dirigenten von Weltklasse. Einige dieser Kollegen sind halt obszön teuer… Das sind die Gesetze des Marktes, denen wir ausgeliefert sind. Zumindest in diesem Segment.
Ihr Vorgänger Andrej Boreyko wurde mehrfach preisgekrönt für seine Programmgestaltungen. Welches sind Ihre Vorstellungen in dieser Richtung?
Wir haben weit und breit kein Orchester mehr, das noch den französischen Klang pflegt. Die Tonhalle spielt eher amerikanisch direkt, die Suisse Romande in Genf deutsch… Es ist also eine wunderbare Chance, sich mit Ravel, Debussy, Dukas, d’Indy, Roussel eine Marktlücke zu erobern. Natürlich werde ich «meinen» Schumann und Bruckner weiter entwickeln, das heißt mein sehr freies, rubatoreiches, taktstrichloses und am Gesang orientiertes Musizieren vertiefen. So wie für alles, was ich mit Herzblut tat, wird’s auch dafür irgendwann einmal Preise geben…
Sie gehen mit der Hellebarde auf Kommissionen los, die unsinnige Beschlüsse fassen. An anderer Stelle haben Sie deutlich gemacht, wofür diese Hellebarde steht: Sie wollen mit qualitativ hochstehender Arbeit Fakten schaffen, die von selbst fachgerechte Strukturen nach sich ziehen. Könnten Sie auf diesen vielversprechenden Vorgang noch näher eingehen?
Ich bin diese Saison noch zu wenig in Bern, als dass ich viele Fakten schaffen kann. Ich möchte deswegen, dass man nicht schon alles zubetoniert, bevor ich überhaupt meine Wirkung entfalten kann…
Kommissionen gehören zum demokratischen Alltag. Sie haben alle aber auch eine Eigen- dynamik und müssen erfolgreich sein. Dieser Erfolg der Kommission ist nicht immer auch der erfolgreichste Weg für die Kunst. Im Moment vertraue ich den vielen klugen Menschen, die in Bern nach Lösungen suchen. Vieles läuft ja prima. Ich hoffe, dass man das nicht beschädigt und wirklich nur das verbessert, was schlecht geht. Sonst werde ich halt meine Hellebarde wieder hervor nehmen. In Amerika hat der Verwaltungsrat meines Indianapolis Orchesters Millionen Dollar in Machbarkeitsstudien und Strukturplänen versenkt. Sinnlos. Ich hoffe, dass man dies hier nicht imitiert…
Sie wollen mit dem Berner Symphonieorchester (BSO) zusammen eine schlanke, französische Tongebung erarbeiten. Darf ich dazu eine These zur Diskussion stellen? Ein modernes, hochkarätiges, Symphonieorchester muss heute in der Lage sein, auf Abruf eine französische, deutsche, russische, italienische, spanische, amerikanische, u.s.w, Klangsprache abzurufen. Ein Widerspruch?
Nein, kein Widerspruch. Ein modernes Orchester muss alles können, aber dennoch einen eigenen Klang und Stil haben. Ich bin ein Fan der historischen Aufführungspraxis. Nicht weil ich denke, dass die Musik Händels, Mozarts oder Monteverdis so geklungen hat. Nein, weil ich denke, dass das vibratoarme Spiel, die deutliche Artikulation, die Entschlackung nicht der Klang von gestern, sondern der von morgen ist…
Es lässt sich immer wieder beobachten, dass die Orchester von grossen Opernhäusern auch Sinfoniekonzerte spielen. Lässt sich daraus ableiten, dass die Kombination von Oper und Sinfonie für die OrchestermusikerInnen ideal ist?
Ich bin der Meinung, dass Opernorchester die besseren Konzertorchester sind. Die Flexibilität, die in der Oper verlangt wird, das rasche Reagierenmüssen kommt auch jedem Konzert zu Gute.
Auch finde ich den Beruf des Orchester-musikers zwar wunderbar, aber auch sehr anstrengend. Immer wieder auf neue Situationen, Dirigenten und Bedingungen einzugehen, stets das Maximum zu geben unter den verschiedensten Umständen, verschleißt und beansprucht. Andererseits ist eben auch das Spielen von Konzerten und Opern, das Zuhausesein in verschiedenen Repertoires anregend, inspirierend und glücklichmachend. Es müssen aber in Konzert und Oper gleichermaßen gute Voraussetzungen existieren. In der Oper kosten diese viel mehr Geld als im Konzertsektor. Das ist eine Tatsache, der man Rechnung tragen muss.
In Bern stimmt dieses Miteinander nicht, weder auf künstlerischer noch auf organisatorischer Ebene. Sie haben sich gegen die Fusion der beiden Institutionen ausgesprochen. Welche Verbesserungen des heute völlig unbefriedigenden Zustandes sind für Sie unabdingbar?
Bern ist zu klein, als dass jeder seine eigene Suppe kochen kann. Die Kulturbetriebe müssen intensiver zusammenarbeiten und in ihrer Planung flexibler werden. Man wird für bestimmte Projekte ab und zu von festen Konzerttagen, Rastern und Riten abrücken müssen, um die Ressourcen besser zu nutzen. Die Berner Oper muss sich in Richtung Stagionebetrieb bewegen, d.h. eine Produktion wird als Serie hintereinander gespielt und nicht lange und teuer im Repertoire gehalten. Noch einmal: Langfristige koordinierte Planung und enge Zusammenarbeit sind mir lieber als das Wort Fusion. Ich denke die «Marken» Berner Symphonieorchester und Stadttheater Bern müssen unbedingt erhalten bleiben. Ich hatte schon die in Basel durchgeführte Fusion hautnah erlebt. Dort wird gerade aufwendig korrigiert. Das wissen die Berner, auch wenn sie es nicht gerne hören. Das bereinigte, aktuelle Berner Organigramm könnte nunmehr funktionieren. Wir haben in jeder Sparte fabelhafte Persönlichkeiten. Darauf muss man setzen, ohne den Organisationsapparat jetzt noch weiter aufzublähen, neue Stellen zu schaffen und damit die Personalkosten noch weiter zu verteuern. Meiner Meinung nach ist das Wort «Fusion» sowieso nicht adäquat für das, was man zu tun beabsichtigt. Im Prinzip will man doch nur die Budgets zusammenlegen, so dass der, der nicht gut wirtschaftet von dem, der sich an die Vorgaben gehalten hat, querfinanziert werden muss. Ohne Würdigung der erbrachten Leistungen oder vorgestellten Visionen. Dieser Gedanke erwärmt mich nicht…
Ich bin für direkte Verantwortung und kurze Wege. Die Verantwortung gehört denen, die die Arbeit tun. Sollte ich scheitern, habe ich nichts dagegen, wenn mir Herr Tschäppät (Berns Stadtpräsident) oder Herr Pulver (Regierungsrat) persönlich sagen, dass ich gehen muss. Und wenn ich erfolgreich bin, bin ich natürlich überglücklich, weitere Ideen auf dem Tisch der Politik ausbreiten zu dürfen. Noch einmal: Je kürzer die Wege der geldgebenden Politik zu den Machern sind, desto effizienter und erfolgreicher wird die künstlerische Arbeit sein. Umso genauer kann man die Haftbarkeiten benennen. Und um das geht es doch auch, nicht wahr?
Visionen sind heute leider Mangelware: wo steht das BSO unter Ihrer Leitung im Jahre 2015?
Finanziell und künstlerisch gesund, Publikumsliebling, unverkleinert, im Frieden mit dem Theater, gern gesehen in der Welt, als Botschafter Berns und des Bundes, unverwechselbar mit eigenem Klang, flexibel, modern, mit lachenden Gesichtern und aufrecht am Platz, wo es hingehört.
Herr Venzago, vielen herzlichen Dank für die Beantwortung dieser Fragen. Ich wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit – in Bern, wie in der weiten Welt – viel Erfolg und innere Befriedigung.
Foto: zVg.
ensuite, November 2010