Von Karl Schüpbach — Der folgende Artikel war schwer in Worte zu fassen. Es waren aber Erinnerungen und Emotionen, die mich anlässlich des 3. Concours Ernst Haefliger in Bern gleichermassen in eine innere Enge trieben, weil sie imperativ verlangten, in Form eines Artikels im Kulturmagazin ensuite in Sprache gekleidet zu werden. Dabei legte sich mir ein Hindernis in den Weg. Wer kennt sie nicht die Schwierigkeit, persönliche Gefühle, der Sprache auszuliefern?
Der Concours Ernst Haefliger. 22. August 2010 im Stadttheater Bern: ich nahm frühzeitig meinen Platz ein, als hätte ich vorausgeahnt, dass das an die Rückwand der Bühne projizierte Bild des grossen Künstlers mich sofort in seinen Bann ziehen würde, und dass die gleichzeitig ausgelöste Lawine von Erinnerungen eine gewisse Zeit zur Verarbeitung verlangen musste. Zum Bild: die Profil-Aufnahme hält in einzigartiger Weise den für mich unvergesslichen Blick des Sängers fest, sein tiefgründiger Ernst, seine Melancholie, zwei prägende Elemente seiner Kunst. Die unverwechselbare Farbe seiner Stimme, die Intensität seiner Gestaltungskraft, offenbarten sich mir erstmals während meiner Gymnasialzeit (1951–1955). Ich war also nicht Berufschüler, durfte aber als Zuzüger im Berner Symphonieorchester, BSO, (damals noch Stadtorchester) bei einer Aufführung der Matthäus-Passion von Bach mitwirken, im Berner Münster, mit Ernst Haefliger als Evangelist. Die Gestaltung der beiden Textstellen «mein Gott, mein Gott warum hast Du mich verlassen» oder «Aber Jesus schrie abermal laut und verschied» klingen heute noch in mir nach. Es war mir vergönnt, Haefliger in meiner Laufbahn als Mitglied des BSO noch mehrmals erleben zu dürfen. Aus den reichhaltigen klanglichen Erinnerungen möchte ich speziell die vielen Liederabende, vornehmlich mit Werken von Franz Schubert, erwähnen, die ich in Bern und Salzburg erlebt habe. Ich erinnere mich an eine unvergessliche musikalische Weihestunde: Haefliger interpretierte im Berner Münster das Tenor-Solo mit Chor «Sanctus, Sanctus» aus dem Requiem von Berlioz. Das BSO und der Chor, erschüttert von dem eben Gehörten, verpassten an der Generalprobe den Anschluss an die nächste Nummer, es herrschte tiefe Stille. Ich weiss, dies klingt anekdotisch, meine Teilnahme an diesem Ereignis darf für die Wahrheit bürgen. Bei der Aufzählung dieser Erinnerungen, dürfen auch seine Gestaltung von Rollen aus Opern und Oratorien nicht vergessen gehen, z.B. sein Idamantes aus dem Idomeneo von Mozart auf der Bühne des Grossen Festspielhauses in Salzburg, oder, hier in Bern, sein Gabriel in der Schöpfung von Haydn.
Die Worte des Moderators rissen mich aus diesen (Klang)Erinnerungen heraus, ich lauschte den 10 Sängerinnen und Sängern, die sich für den Enddurchgang des 3. Concours Ernst Haefliger qualifiziert hatten. Aber ich muss gestehen, ich war nicht ganz bei der Sache …
Es ist sicher verständlich, dass man Musik-Wettbewerbe nach dem Namen einer grossen Künstlerin oder eines grossen Künstlers benennt. Wenn man das Glück hat, eine solchen Namensgeberin, einen solchen Namensgeber, persönlich erlebet zu haben, stellt sich meines Erachtens die Gefahr von Vergleichen ein. Ich jedenfalls erliege dieser Gefahr: nach Ernst Haefliger habe ich bis heute keinen Evangelisten erlebt, den ich auf gleicher Höhe an die Wand projizieren könnte.
Worte. Meine Vorahnung der sich einstellenden Schwierigkeiten, Ihnen das Erlebte in Worten zu schildern, haben sich nicht nur bestätigt, sondern sie haben sich insofern verselbstständigt, als ich mich gezwungen sah, mich dem Dilemma Wort-/Gefühlsinhalte während der gedanklichen Vorarbeit für diesen Artikel weiter zu stellen. Ist es nicht sonderbar: wenn ich im Kultur-Magazin ensuite fast Nummer für Nummer die in unserem Lande übliche zerstörerische Huldigung des Mammons zu Ungunsten der Kultur anprangere, entziehen sich die Worte nie meinem Zugriff. Wenn ich auch im Zusammenhang mit dem Concours Haefliger zum wiederholten Mal das brillante künstlerische Niveau des BSO hervorhebe – wie klangschön, einfühlsam und technisch perfekt hat der Klangkörper die heikle Aufgabe gelöst – dann drängen sich die Worte, Formulierungen, geradezu auf! Wenn aber Gefühlsinhalte weiter gegeben werden sollen, ziert sich das präzise Instrument Wort, Hemmungen greifen um sich, wie wenn es etwas zu verbergen gäbe. Ein Verdacht drängt sich auf, wie ein Gedankensplitter, der in diesem Zusammenhang nicht vertieft werden soll: liegt hier ein Grund vor, warum wir materielles Gedankengut mit Leichtigkeit äussern, weil dem Intellekt zugänglich, während gefühlsmässiges Erleben – lies Kultur – es liebt, sich in seiner Irrationalität dem allgemeinverständlichen Zugriff zu entziehen?
Am Meer. Franz Schubert, Lied Nr. 12 aus dem «Schwanengesang» (Claves CD 50–850). Die Diskussion um Worte führt uns abrundend wieder zu Ernst Haefliger zurück.
Die Titelzeile meines Artikels stammt aus dem obenstehenden Lied. (Text: Heinrich Heine). Innerlich höre ich es gesungen von Ernst Haefliger, am Hammerflügel magistral begleitet von Jörg Ewald Dähler. Sie wissen, liebe Leserinnen und Leser, dass Wortdeutlichkeit eine Forderung ist, die an Sängerinnen und Sänger immer wieder gestellt wird, gerade beim Liedgesang. Ich habe dieses Beispiel ausgesucht – es würde unendlich viele weitere geben – weil hier die Einheit von Wort und Melodie, von der menschlichen Stimme und dem Hammerflügel ganz besonders eindrücklich ist. Präzise auf das Wort bezogen: es drängt sich hier nicht in den Vordergrund, es will aber auch nicht mehrfach gewogen werden, wie ich es erlebt habe beim Versuch, Gefühlsintensives … eben, in Worte zu fassen.
Abschliessend noch zwei Gedankengänge: Das Lied von Franz Schubert stützt sich auf einen Text der Romantik mit ihrer Ausstrahlung, wie wir sie kennen aus der Literatur oder der Malerei. Die beiden Künstler lassen uns teilnehmen an einer Fähigkeit der Identifikation, die weit über das Mitfühlen mit einem jungen Mann und einer jungen Frau angesichts einer Naturszene hinausgeht. Was aber schwingt noch mit? Diese Frage beschäftigt mich seit Jahrzehnten, erwarten Sie keine Antwort von mir.
Ich kann nicht wissen, wie meine Worte über die Kunst von Ernst Haefliger bei Ihnen ankommen – sie lassen Sie kühl, vielleicht lehnen Sie sie ab als Gefühlsduselei, vielleicht fühlen Sie sich angesprochen, vielleicht wecken sie gar Erinnerungen. Letzteres trifft sicher nicht zu bei einem sehr jungen Kollegen, der mich unmittelbar nach dem Concours fragte: «Wer ist eigentlich Ernst Haefliger?» – Der Sänger wurde 1919 geboren, und ist 2007 gestorben. Der Kollege konnte ihn also nicht kennen. Ich war nicht in der Stimmung, lange Erklärungen abzugeben und empfahl ihm, die CD anzuhören, vor allem das Lied «Am Meer». Es lebe die Schallplatte! Werden auch Sie hineinhören?
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010