Von Karl Schüpbach — Als Titel für unseren Austausch der die Nummer 100 von ensuite zum Gegenstand hat, scheint es mir sinnvoll zu sein Dich, Lukas Vogelsang, zu zitieren – was ist dabei naheliegender, als auf Dein allererstes Editorial zurückzugreifen?
Ich sehe diese Zitate aus ensuite Nr. 1 ganz generell als Leitmotiv unseres Gesprächs an. Ich werde im Folgenden Deine Gedanken hier festhalten, mit der Bitte, sie aus heutiger Sicht zu kommentieren, wobei ich noch Fragen hinzufügen werde.
Wenn ich gratuliere, sehe ich das in Verbindung mit Dank, aber auch mit dem Bedürfnis, Informationslücken zu schliessen: Du bist nicht der Mensch, der eigene Verdienste ins Scheinwerferlicht rückt. Ich habe das Privileg, seit einigen Jahren für ensuite zu schreiben, und doch… was braucht es alles, damit ensuite pünktlich um Monatsbeginn erscheint? Ich bin überzeugt, dass sehr viele Leserinnen und Leser, wohl auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das gleiche Wissensdefizit aufweisen. Ich bin glücklich, wenn es mir gelingt, Dir diesbezüglich einige «Geschäftsgeheimnisse» zu entlocken, ganz einfach, damit Deine Verdienste um Aufbau und Zukunft unseres Kulturmagazins gebührend gewürdigt werden können.
Ein Zitat von Dir: «Meine Vision eines Kulturmagazins und der Wunsch nach einer neuen Kulturplattform im Raum Bern sind in den letzten Jahren immer stärker geworden.»
Vor knapp 10 Jahren war die «Kultur in Bern noch in Ordnung». Zumindest für mich und mein Umfeld. Ich arbeitete selber in verschiedenen künstlerischen Projekten mit und wir versuchten, einfach «unser Ding» zu machen. Während dieser Zeit ist mir aufgefallen, dass vor allem in der freien Szene, zu der ich gehörte, kaum Plattformen vorhanden waren, welche als Schnittstelle zwischen uns und dem Publikum Gedanken austauschen liessen. Mir hat das öffentliche gemeinsame Denken gefehlt – nicht, dass ich selber ein wahnsinniger Denker gewesen wäre. Aber mit fehlte diese Auseinandersetzung. Ich habe viele Fragen. Es gab und gibt noch immer so viel zu entdecken über uns und die Gesellschaft, über Lebensformen und Lebensgedanken. Das sollte doch nicht einfach im Nichts verdampfen. Als dann der BUND und die BernerZeitung gemeinsam den «Ansager» produzierten, als Nachfolge von der sehr guten «Berner Woche», war ich als Kulturschaffender beleidigt darüber, und musste etwas tun.
«Wir haben bewusst, um eine Kontinuität zu garantieren, klein angefangen – mehr kann man immer erdenken, aber die Finanzierung ist auch zu berücksichtigen.» Hier ist wohl der Moment, um über die heute vorliegenden Ausgaben von ensuite zu sprechen – welche Entwicklung! –, aber auch über das abendfüllende Thema der Finanzierung.
Wir haben in unserer Schweizer Kultur ein Problem: Wir denken zuerst an das Geld, danach daran, was wir damit machen könnten. Das ist eine Eigenschaft, die jegliche Vision und jeden Fortschritt zunichtemacht. Auf meinen Reisen in Mexiko zum Beispiel habe ich den umgekehrten Denkweg kennengelernt. Sechzehn Mal so viele Menschen wie hier überleben dort nach dieser Lebensart. Eine Vision muss deswegen für mich zwingend aus der Hoffnung und der Fantasie entspringen. Die Realisierbarkeit ist das kleinste Problem – vor allem in einer Welt voller Überfluss. Leider bewegen wir unsere gesellschaftliche Entwicklung mit aller Kraft in die falsche Richtung. Macht, Budgets, Profit sind heute vermeintlich wichtiger, und wir vertrauen Zahlen viel mehr als unserer Hoffnung – welche eben auch «Inhalt» wäre. Wenn wir eine Idee haben, müssen wir doch erst mal einen Samen pflanzen und warten. Im Leben ist doch eben gerade das Leben selber das Element, welches uns fasziniert: Dass Dinge einen eigenen Puls erhalten, wachsen, sich entwickeln, und wir Menschen daran teilhaben dürfen. Und es ist immer die gleiche Geschichte: Wenn der Mensch seinen Verstand einsetzt, kommt oftmals nicht sehr viel Intelligentes raus. Wenn er aber sein Leben einsetzt, entstehen Wunder und die Intelligenz zeigt sich in voller Blüte. ensuite ist in all den Jahren gewachsen, wie ein Kind. Wir starteten mit 12 Seiten – heute sind es pro Monat insgesamt 152 Seiten. ensuite hat einen eigenen Charakter erhalten, einen eigenen Puls. Das Wichtigste für mich aber ist, dass ich es bis hierher schützen konnte vor all den Mächten, die versucht haben, Besitz davon zu ergreifen. Das hat für mich eine ganz grosse Bedeutung erhalten.
Die Finanzierung ist für uns ein tragisches Kapitel. Unsere Rechnung würde eigentlich aufgehen – allerdings hat die öffentliche Hand bewusst reingepfuscht: Die Stadt Bern konnte nicht zulassen, dass unser Verein die Initiative für ein Kulturmagazin ergriffen hat. Mit unlauteren Mitteln und sehr viel Geld wurde ein städtisches Produkt auf die Beine gestellt. Unlauter war es, weil es nie eine korrekte Ausschreibung gegeben hat, weil die subventionierten Kulturinstitutionen mit den Leistungsverträgen und dubiosen «Klauseln» zu einer Mitgliedschaft im entsprechenden Verein gedrängt wurden, und schlussendlich hat man nach zwei Jahren das Gesetz anpassen müssen, damit diese «Berner Kulturagenda» legal im Stadtanzeiger publiziert werden konnte. Das alles hat nur funktioniert, weil die Stadt Subventionsgeld bezahlt, und die Institutionen dieses Geld nicht aufs Spiel setzen wollten. Für uns wurde das Überleben sehr hart. Kulturinstitutionen haben nicht das Geld, um endlos zu inserieren. Die Werbebudgets sind klein, und allein die Mitgliedschaftsbeiträge beim Verein der «Berner Kulturagenda» sind fast so hoch, wie eine Anzeigebuchung bei uns für ein Jahr.
Es ist für mich sowieso nicht nachvollziehbar, wieso gerade in der Kultur die Kulturförderstellen auf den Leitungen herumstehen und mehrheitlich Geld und Initiativen von Privaten blockieren, als freisetzen helfen. Die Politik sollte verwalten, was da ist, nicht versuchen, selber aktiv zu werden und Projekte selber zu definieren. In der Kultur fehlen da eindeutig die Kontrollorgane.
«Es führt uns in ensuite zu der Stille und Feinheit, die wir mit dem Magazin anstreben.» Diese Aussage ist mir ganz besonders an das Herz gewachsen. Ich erinnere daran, dass sie, wie alle hier aufgeführten, aus Deiner Feder stammt: Editorial ensuite Nr. 1, Januar 2003. An unserer Weihnachtsfeier 2010/11 hast Du den Wunsch geäussert, ensuite möge «lauter und aggressiver» werden. Welche gedankliche Entwicklung steht da dahinter?
Diese Stille entstand ursprünglich aus einem Stein und einem dunklen Holztisch. Es war meine visuelle Vorgabe, welche unser Grafiker Gerhard Zbinden damals sehr schön im Layout aufgenommen und umgesetzt hat. Diese Sensibilität war mir ganz wichtig, weil Kultur immer eine individuelle, persönliche Sache ist, die sich aber nur durch eine Gemeinschaft definieren lässt. Das heisst, wir müssen vom Individuum her uns an unsere gemeinsame Kulturfindung herantasten. Der Massenevent wirkt manipulativ und übertönt alles, nimmt uns die Entscheidung weg. Das ist ja gerade der Prozess, der in dieser Globalisierung, in dieser Massenfokussiertheit jegliche Kultur vernichtet, oder zumindest vergessen lässt. Dieses Konzept der «Stille und Feinheit» hat in dieser Form bis hier sehr gut funktioniert. Aber schliesse mal deine Augen und höre in die Stille – in deinem Kopf wird es wahrscheinlich sehr laut werden. Etwa so stelle ich mir dieses «lauter und aggressiver» vor. Es ist der Moment, in dem wir beginnen, unserem Unterbewusstsein Raum zu geben. Erst wenn wir zuhören, kann wieder Ruhe entstehen. Wir müssen im ensuite also vermehrt diese Stimmen hörbar machen. Mehr diese inneren Dialoge laut werden lassen. Mit diesem Ansatz, denke ich, wird sich das Leseverhalten, aber auch die Funktion von ensuite wesentlich verändern. Das klingt alles natürlich sehr esoterisch, abstrakt, und vielleicht unsinnig. Aber eben, wenn wir einen Samen in den Fingern halten, sehen wir den Baum ja auch nicht, der in einigen Jahren daraus entstehen wird. Und schlussendlich muss ich ja, um mir selber gerecht zu werden, neue Wege suchen, als nur Geld und Willen.
«In diesem Kulturmagazin geht es um ein Stück Bernkultur, um uns und unser soziokulturelles Verhalten.» – «Soziokulturelles Verhalten»: Ich möchte nicht nachschlagen, was das genau bedeutet, hier interessiert Deine persönliche Interpretation.
In einem Dorf in Irland, in Killarney vor ca. 20 Jahren, gab es 60 Pubs und 52 Einwohner oder so ähnlich. Am Abend war das Dorf voller Menschen, die diskutierten und musizierten. Da ist mir aufgefallen, dass Pubs ziemlich wichtige soziale Einrichtungen sind. Heute, hier, sind Kulturinstitutionen für mich dem gleichgesetzt: Es ist wichtiger, welche Institutionen, welche Menschen, welche Orte kulturell aktiv sind, weniger wichtig ist das Programm auf der Bühne. Eben, wie gesagt, das Leben zählt. Über den Erfolg einer Institution bestimmt das soziale Engagement – nicht das Programm. Dazu kommt: Kultur und Soziales ist immer ein Ding, das kann man nicht trennen. Deswegen gefällt dieser Begriff.
«Die Redaktion wünscht sich viele Freiwillige und Partner, die kontinuierlich und aktiv mitmachen. Ihr könnt mitschreiben, mitdiskutieren, uns jederzeit Vorschläge und Ideen zukommen lassen oder für uns den Kaffee kochen.» Hier kommt sehr schön zum Ausdruck, wie viele Rädchen in einander greifen müssen, damit eine sehnlich erwartete Ausgabe von ensuite vor uns liegt. Kannst Du für uns die Stationen schildern, die ein Manuskript durchläuft, von Deinem Schreibtisch bis hin zur ausgelieferten Nummer von ensuite?
Als ich das Magazin aufbaute, fragte ich bei der damaligen BUND-Druckerei nach, was sie denn von mir bräuchten, wenn ich eine Zeitung drucken wollte. Der Typ am anderen Ende meinte ganz schlicht: «Tja, wenn sie so fragen: ein PDF-File.» Eine Zeitung zu machen ist heute sehr einfach, und kostet ausser dem Druck fast nichts. Ein Manuskript hat es, so gesehen, einfach: Die kontinuierlichen AutorInnen haben eine eigene Verantwortung über «ihr Gefäss». Dieses wurde zuvor mit mir definiert – aber über den Inhalt und über die Formen können sie selber entscheiden. So geht ein Text der geschrieben wurde umgehend ins Layout, und wird nur vom Korrektorat noch bearbeitet. Spannend ist dabei meine Funktion als Chefredaktor: Ich lese ensuite erst, wenn es gedruckt ist. Entschuldigend kann ich vielleicht sagen, dass ich während dem Layout einige Texte schon Quergelesen habe. Aber es ist so: Ich habe ensuite aufgebaut, damit ich ein Kulturmagazin habe zum Lesen. Es wäre schade, wenn ich selber dabei zu kurz käme – es würde meine Motivation ziemlich schmälern.
Wir sind fünf Personen, welche Ende Monat jeweils die Magazine fertigstellen. Und meine Funktion ist entsprechend, die insgesamt siebzig ensuite-MacherInnen, sofern machbar, jeden Monat zu koordinieren, und auf die letzten Minuten alles zu organisieren. Da geht es auch darum zu koordinieren, dass Bilder und Texte wirklich pünktlich eintreffen, dass die Anzeigen da sind und alle Arbeitsplätze funktionstüchtig sind. Wir sind technisch sehr gut organisiert und können mit einfachsten Mitteln innerhalb von drei Tagen rund 170 Seiten layouten. Aber es kommt oft vor, dass ich 24 Stunden durcharbeiten muss, bis die Magazine in der Druckerei sind, weil eine kleine Panne grosse Verzögerungen auslöst. Das ist sehr anstrengend, aber ich habe mich daran gewöhnt.
Ganz wichtig im Produktionsprozess sind unsere Partner, also die Druckerei und Buchbinderei, welche den Massen-Aboversand für uns erledigen. Die sind seit Jahren fix in unsere Prozesse integriert. Gerade die Druckerei Ast & Fischer AG in Wabern bewundere ich wegen ihrer Geduld, Loyalität und Professionalität. Ich habe sehr viel gelernt von ihnen.
A propos ausgelieferte Nummer: ich weiss von Dir, dass Du ensuite in Zürich eigenhändig verteilst. Wie kommt es zu dieser Geste, die, warum auch immer sie erfolgt, von Deinem unerhörten Einsatz, und von Deiner – sehe ich das richtig – herzlichen Verbundenheit mit unserem Kulturmagazin zeugt?
Es ist mir immer sehr wichtig, dass ich, als leitende Figur von diesem Betrieb, nicht auf einem Thron sitze und nur delegiere. Ich bin wie alle anderen und ich mag es nicht, wenn andere für mich die Drecksarbeit machen müssen. Vor allem aber bringt die Frontarbeit immer sehr viel Nützliches mit sich: Ich sehe in die Institutionen, kann ihre Präsenz beobachten, sehe wer sich wo aufhält und natürlich beobachte ich, was mit den Magazinen an diesen Orten geschieht. Das sind echte Informationen, die mir kein «Chef» absprechen kann. Und wer sich mit dem «Fussvolk» verbindet, der kriegt immer die besten Informationen.
Kurz vor Erscheinen der Nr. 200 von ensuite fällt in Bern (vielleicht mit Ausstrahlung auf die ganze Schweiz) eine gewichtige kulturpolitische Entscheidung. Deine mutige Vorhersage: um was handelt es sich, und wie wirst du sie im Editorial 200 würdigen?
Die 200. Ausgabe werden wir vielleicht im Jahr 2020 drucken. Ich denke, da werden uns klimatische Veränderungen, Monopolwirtschaft und zerrüttete politische und gesellschaftliche Verhältnisse sehr zu schaffen machen. Es wird das Jahr von der EXPO 2020 und auch der Neat werden. Um ehrlich zu sein: Ich befürchte, dass «Kultur» noch mehr untergeordnet sein wird, als sie es jetzt schon ist. Wir leben in immer kürzeren Zyklen, und der Anreiz für Kulturelles muss immer grösser werden. Trotzdem, es wird viele neue Konzepte geben, in den Städten und vom Bund aus. Aber ich befürchte, ausser über Sparübungen werden wir auch im Jahr 2020 nicht diskutieren. Inhalt wird auch in neun Jahren kein Thema sein. Diese Illusion müssen wir, glaube ich, bereits heute begraben. Wir werden glücklich sein, wenn überhaupt noch über Kulturelles gesprochen wird!
Ich persönlich werde hoffentlich das 200. Editorial nicht mehr schreiben. Bis da muss ich ersetzt worden sein – das ist mein Ziel. Aber lesen werde ich es ganz sicher.
Lukas, Dir und ensuite ein sehr herzliches
AD MULTOS ANNOS!
ensuite, April 2011