Von Luca Scigliano und Luca D’Alessandro — Blues und Soul vermengen sich mit klassischem Jazz und Latin. Mit George Duke, Chucho Valdés und Dianne Reeves haben sich die Organisatoren des Jazzfestivals Bern gleich drei Kirschen auf die Jubiläumstorte gesetzt. 35 Jahre gibt es das Festival schon. «Grund genug, sich etwas Besonderes zu gönnen», sagt Festival-Organisator Benny Zurbrügg gegenüber ensuite-kulturmagazin. Den Auftakt haben Sängerin Niki Harris und Catherine Russel gemacht, gefolgt vom Blues Man aus Baton Rouge Louisiana, Kenny Neal.
Kenny Neal – der US-amerikanische Blues- und Swamp-Blues-Gitarrist mit der rauen Stimme war Mitte März am Jazzfestival Bern zu Gast. Neal vertritt einen zeitgemässen Blues, der sich an den Traditionen ehrwürdiger Blueslegenden wie Muddy Waters, B.B. King oder Bonnie Raitt orientiert. Und gleichwohl: Kenny ist anders als sie alle.
Kenny Neal, der Blues hat einen Ruf der Traurigkeit. Wenn ich Dich so ansehe – Deine Offenheit und Dein Lächeln – muss ich diese Meinung revidieren.
Ja, der Blues von heute ist nicht mit jenem von Muddy Waters oder John Lee Hooker vergleichbar. Deren Blues war authentisch.
Ist das der Blues von heute nicht?
Heute ist der Blues eher etwas für Leute, die Musik in ihrer Freizeit geniessen. Daher kann ich mir nicht vorstellen, dass sie den Blues auch tatsächlich leben. Das Genre ist in einer harten Zeit der amerikanischen Geschichte entstanden, es war Ausdruck eines tiefen Schmerzes. Die Musiker von damals therapierten sich damit. Sie sangen den Blues und fühlten sich sofort besser. So gesehen, war Blues nichts Trauriges, im Gegenteil: Er war der Weg zu einem besseren Wohlbefinden.
Der Blues ersetzte den Psychotherapeuten.
Genau. Leider hat der Blues diese Aufgabe verloren. Heute wird er nicht mehr ausschliesslich von armen Leuten gespielt, sondern immer öfter von reichen Kids.
Sind diese Kids auf eine andere Art unglücklich?
Das ist möglich. Jeder kann den Blues spüren.
Was machst Du mit dem Blues?
Wenn ich einen Blues arrangiere, schreibe ich über mich und jene Leute, die ähnliches erlebt haben wie ich. Ich beschreibe eine kollektive Trauer. Früher sprachen die Bluessänger von eigenen Problemen, im Stil von «My baby›s gone». Ich hingegen singe über den Fluss des Lebens: «Let life flow» titelt meine letzte CD. Du musst das Leben vorbeiziehen lassen, darfst dir nicht zu viele Gedanken machen. Heutzutage nehmen wir uns kaum Zeit zum Atmen, unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen oder Beziehungen zu pflegen. «We have to take it easy and let life flow.»
Dein Leben war alles andere als einfach. Du musstest mehrere sehr schwere Schicksalsschläge hinnehmen.
Ja, ich habe ein paar sehr schlimme Jahre hinter mir. Mein Bruder hatte Leberkrebs, mein Vater Knochenkrebs. Beide sind sie inzwischen gestorben. Sechs Monate nach meines Vaters Tod drang ein Verrückter in den Friseursalon ein, wo meine Schwester sich die Haare schneiden liess. Der Mann schoss wild um sich, meine Schwester starb auf der Stelle. Danach hatte ich mit einer schweren Leberkrankheit zu kämpfen. Zwei Jahre lang musste ich um die Gesundheit ringen. Aber jetzt befinde mich auf dem Weg der Rückkehr.
Du hast wieder Mut gefasst. Welchen Rat würdest Du einem Menschen geben, der ein ähnlich schweres Schicksal ertragen muss?
Ein Rezept habe ich nicht. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Ich zum Beispiel habe mich nach der schlimmen Zeit intensiver mit Musik befasst und den Song «Let life flow» geschrieben. Er schliesst alle meine Gedanken und meinen Schmerz ein. Wer diesen Song hört und den Text versteht, findet darin viel Kraft.
«Let Life Flow» hat mehrere Preise gewonnen.
Ja, weil er authentisch und ehrlich ist. Ich werde vermutlich nie mehr in der Lage sein, einen ähnlichen Song zu schreiben. Nach den Konzerten sprachen mich viele Leute weinend an. Sie sagten, ich hätte ihnen aus dem Herzen gesprochen.
Heute wohnst Du in Louisiana und in Kalifornien, vor einiger Zeit hast Du in Kanada gelebt.
Ja, in Toronto. Ich war mit einer Italienerin verheiratet.
Wie hat dich die nordamerikanische Mentalität geprägt?
Toronto ist riesig und entsprechend fortgeschrittener als der Südstaat Louisiana.
In welcher Art?
Wirtschaftlich hat Toronto viel zu bieten. Auch das Kulturleben spielt sich da ganz anders als in meiner Heimat ab. In Toronto waren die Gigs auf Wochen im Voraus geplant. In Louisiana hingegen kommt es heute noch vor, dass du an einem beliebigen Nachmittag für eine Heimparty am selben Abend engagiert wirst.
Hier in Europa läuft es wohl ähnlich wie in Toronto: Für das Jazzfestival Bern wurdest Du für ganze fünf Tage engagiert.
Ja, hier in Europa ist alles viel strukturierter. Ich weiss zum Beispiel bereits, dass ich Ende Juni und im Juli erneut in der Schweiz spielen werde.
Welchen Einfluss hat dieses strukturierte Denken auf Deine Kreativität auf der Bühne?
Keinen nennenswerten. Für mich ist es einerlei, wo ich auftrete. Ich bin ein neugieriger Mensch, der sein Publikum gerne beobachtet und schaut, wie es auf meinen Sound reagiert.
Auch wenn die Leute eher reserviert sind?
Die meisten meiner Shows sind nicht bis auf den letzten Platz ausgebucht, was mir die Möglichkeit gibt, die Reaktion der Menschen auch tatsächlich wahrzunehmen. Einmal erkannt, bringe ich die Leute dazu, sich zu öffnen, aus sich herauszukommen und mit mir zu interagieren. Es gelingt mir in der Regel sehr gut. Ich weiss nicht, wie, aber es funktioniert (lacht).
Willst Du das Rezept nicht verraten?
Ich kann es wirklich nicht sagen. Nicht weil ich ein Geheimnis für mich behalten will – ich weiss es einfach nicht.
Ein weiteres Geheimnis ist Deine Präsenz im Fernsehen. In Deinem Zweitwohnsitz Palo Alto, Kalifornien, moderierst Du Deine eigene Blues-Sendung.
Ja. Als mir der Arzt wegen meiner Krankheit das Musikmachen verboten hatte, wusste ich nicht, wie ich die Zeit totschlagen sollte. Plötzlich sah ich im Lokalfernsehen eine Werbung eingeblendet: «Gestalte deine eigene Sendung.» Seither bin ich regelmässig on Air mit der Sendung «Neal›s Place».
In der Du auch namhafte Gäste begrüssen durftest. Dein Highlight?
Jimmy McCracklin, ein Veteran unter den Bluesmännern. Bekannt wurde er mit seinem Song «Do the walk». Wir hatten ein sehr unterhaltsames Gespräch.
Die Resonanz ist scheinbar sehr gut.
Ja, die Leute müssen beinahe eine Nummer ziehen, um zu mir in die Sendung kommen zu können (lacht).
Der Blues ist starken Veränderungsprozessen unterworfen. So hat zum Beispiel die Elektronik Einzug gehalten. Welche Rolle spielst Du als Verfechter des Modern Blues?
Ich bin ein Blues-Man, der seinen Platz zwischen Tradition und Avantgarde gefunden hat. Ich verflechte Themen des Alltags mit dem Stil und Instrumentarium der Ahnen. So gesehen, bin ich nicht allzu modern.
Du bist 53 Jahre alt, wirst vermutlich noch für 20 Jahre im Business sein. Welchen Weg wirst Du beschreiten?
Ich werde meinen eigenen Stil weiter ausbauen, mich gleichzeitig auf die Traditionen besinnen. An meinen Konzerten mache ich gerne Exkurse in die Moderne, finde aber immer wieder rechtzeitig den Weg zurück zur Tradition. Tradition ist mir wichtig, und ich will sie einer jüngeren Generation weitergeben. In der aktuellen Show steht daher bewusst mein Neffe im Vordergrund. Er ist ein sehr talentierter Jungmusiker und wird vermutlich in den kommenden Jahren auf dem Feld des Blues seinen Einfluss nehmen.
Wie erlebst Du das Zusammenspiel auf der Bühne?
Sehr flexibel. Mal spiele ich Gitarre, mal sitze ich am Klavier oder nehme die Mundharmonika zur Hand – ganz nach Lust und Laune. Ich bin etwas verrückt, ich halte mich nicht gerne an strikte Muster.
Aber Deine Band muss doch wissen, wann Du was vor hast?
Die Band ist meine Familie: Sie kennt mich sehr gut und weiss meine Bewegungen zu deuten.
Sind Deine CD-Produktionen auch so spontan?
Ja, es kam schon vor, dass mich der Manager meiner Plattenfirma anrief und fragte: «Kenny, hast du ein neues Album für uns?» «Natürlich!», sagte ich.
Und?
Das war gar nicht wahr: Ich hatte gar keins.
Was passierte danach?
I played it, man! Eine Woche vor den Aufnahmen schloss ich mich in meinen Übungsraum ein, schrieb ein paar Grundzüge auf und … boom! Im Studio entstand mein Album ganz von selbst.
Wann wirst Du Deinen nächsten «Boom-Effekt» haben?
Kürzlich verspürte ich ihn: Anfang März habe ich meine neue CD in Nashville und Chicago aufgenommen, allerdings noch keinen passenden Titel gefunden. Du bist übrigens der erste, der von dieser neuen CD erfährt.
Das ehrt mich sehr. Ich könnte Dir helfen, einen Albumtitel zu finden.
Das wär was (lacht). Ich habe bereits ein paar Titel ausgedacht: Zum Beispiel: «Take the bitter with the sweet.» Manchmal ist das Leben bitter, manchmal süss. Beides ist allgegenwärtig, du kannst nicht nach Belieben wählen. Infrage käme auch «Hooked on your love»: Ein Mann trifft auf eine Frau und verliebt sich in sie. Wie dem auch sei – ein Titel wird sich früher oder später ergeben. Ist auch nicht weiter relevant, jetzt steht meine Tournee im Zentrum.
Diskografie
1988: Big News From Baton Rouge !
1989: Devil Child
1991: Walking On Fire (Ausgezeichnet mit dem Prix Big Bill Broonzy)
1992: Bayou Blood
1994: Hoodoo Moon
1997: Deluxe Edition
1998: Blues Fallin’ Down Like Rain
2000: What You Got
2001: One Step Closer
2005: Tribute
2008: Let Life Flow
2016: Bloodline
Foto: PeeWee Windmüller von Jazz’n’more
ensuite, April 2010