Von Till Hillbrecht — Das Berner Schallplattenschneidestudio Centraldubs wird zehn Jahre alt und läuft längst noch nicht auf der letzten Rille.
Es fühlt sich eigenartig an, die Türe zum Wasserwerk-Club aufzustossen, wenn keine Türsteher am Eingang zur Kontrolle bitten, einem keine wummernden Bässe im Treppenhaus entgegendröhnen und keine partytrunkenen Besucher den Gang entlang drängeln. Und wenn Tageslicht statt kalte Nacht den Raum flutet. Auf dem Weg nach oben riecht es nach abgestandenem Bier, das mag auch nur Einbildung sein. Die sonderbare Stille im ersten Stock, wo sich seit bald zwei Jahrzehnten das Ausgeh-Lokal befindet, provoziert vage Erinnerungen an den letzten nächtlichen Besuch, der bei manchen schon etwas länger her sein dürfte.
Was sich in der Etage darüber eingenistet hat, bleibt von den meisten Besuchern unentdeckt. Da befindet sich so etwas wie eine Schaltzentrale, eine Art Cockpit eines Raumschiffes, das Modell stehen könnte für Science-Fiction-Filme aus den sechziger Jahren. Hier, im Herzen des Matte-Quartiers, geht das Audiomastering- und Schallplattenschneidestudio «Centraldubs» in sein zehntes Jahr. Professionelles Mastering beschreibt den letzten Bearbeitungsschritt, bevor eine CD – oder eben die geschnittene Platte – zur Vervielfältigung ins Presswerk geht.
Der Blick in den wohnzimmergrossen Raum fällt schnell auf die Schallplatten-Schneidmaschine im hinteren Teil des Studios. Ihr Platz am Fenster zur Wasserwerkgasse beseelt die mit Knöpfen und Hebeln übersäte Apparatur, sie wirkt wie eine Pflanze, die Tageslicht zum Leben braucht. Tatsächlich funktioniert die Maschine nur mit Licht: Ohne dieses könnte sie sich nämlich nicht selbständig justieren. Es ist ein massives Gerät, das man eher in einer Werkstatt vermuten würde als in einem Tonstudio, eine Art Dreh-Bank, die schnell zu verstehen gibt: Wer sich an diese Hebel macht, muss wissen, was er tut. Und was die Maschine tut.
Frank Heierli weiss, was er tut. Doch auch er, Agnes Fischer und Stefano de Marchi haben einst bei Null angefangen. Als sie vor zehn Jahren Centraldubs gründen, weiss noch keiner von ihnen, wie man eine Schneidmaschine bedient – plötzlich steht so eine im Studio. Und kostet immerhin 60 000 Franken.
Alles beginnt mit einer Kifferidee. Es ist die Blütezeit der Berner Hip-Hop-Szene, Stefano ist DJ der Rap-Combo lDeeP, Frank – ehemals Musiker der Band Malfunction – stösst als Gitarrist dazu. Allabendlich wird ein Stadtkeller zum Treffpunkt sich nahe stehender Musiker: DJs, Rapper, Produzenten. Auf einmal ist dem Trio klar: Wir wollen unsere eigenen Platten schneiden können, aufnehmen, ein Studio aufbauen.
Als der Raum in der Matte bezogen wird, ist der Club darunter gerade der nächtliche Zeremonien-Ort nationaler HipHop-Veranstalter und ein wichtiger Drehpunkt der Szene. Plötzlich erhält Frank einen Anruf von Stefano: Er habe eine Schneidemaschine gefunden, via London – die Maschine selber stehe aber noch in Dehli. Völlig verschlammt, eine Neumann VMS 70 aus den späten siebziger Jahren. Der Deal wird eingefädelt, Agnes und Stefano fliegen kurzerhand nach London, um mit Sean Davies, dem legendären Audio-Ingenieur und Vinyl-Cutter aus England, die Maschine zu prüfen. Die Beiden kommen zurück und bringen Frank eine geschnittene Platte als Beweis mit: Die Maschine funktioniere, triumphieren sie, es gebe eine Rille auf der Platte.
«Eine Rille in die Platte schneiden, das kann man an einem Nachmittag lernen,» sagt Frank heute, «aber um gute Qualität zu erzielen, muss man ein Gefühl entwickeln. Das ist ein jahrelanger Prozess». Denn über das Plattenschneiden könne man nicht eben mal ein Buch lesen – es fehle schlichtweg an Literatur. Und jene Leute, die etwas darüber wissen, gäben ihre Geheimnisse nur ungern preis. Über die Jahre kristallisiert sich heraus: Ein Mastering- und Schneidestudio ist etwas, was mit Vertrauen zu tun hat und Jobs erhält man, wenn die Zusammenarbeit funktioniert und die Leistung stimmt. Zwischen einem spiegelblanken Platten-Rohling und einer gerillten, abspielbaren Schallplatte liegt ein alchemistischer Prozess, der im Centraldubs-Studio über einen komplett analogen Weg führt. Was der Audio-Ingenieur von einem digitalen Audio-File abspielt, wird in eine Kette von Maschinen eingespeist. Darin werden die Klänge über Drehschalter, Tasten und Hebel einem abstrakten Transformationsprozess unterzogen, dessen Resultat vorab im Kopf des Ingenieurs ausgedacht ist: die korrekte Hin- und Herbewegung des Schneidemessers auf der rotierenden Platte. Den Klang analog den eingespeisten Tonfrequenzen so in die Platte zu schneiden, dass die totale Umwandlung eines elektrischen Signals in einen dreidimensionalen Raum gelingt, dass kaum ein akustischer Unterschied zum digitalen Original hörbar ist. Das, erahnt man, ist die grosse Kunst.
«Man muss Kontakt halten mit der Maschine», ist Frank überzeugt. «Es ist wie mit einem Musikinstrument: Wer nicht täglich übt, wird nicht zum gewünschten Klang finden». Zur Gründungszeit von Centraldubs sind Schneide-Experten in der Schweiz schwer zu finden. In Solothurn gibt es Flo Kaufmann vom Studio «Vinylium», doch mit ihm besteht zu Beginn nur wenig Kontakt. Man will unabhängig sein, ein «eigenes Ding machen», wie Frank erzählt. «Dabei hätten wir wohl sogar eine Schneidemaschine vom Vinylium bekommen können». Zur Neumann-Maschine am Fensterplatz bauen die Berner aber schnell eine innige Beziehung auf. Heute ist sie die «alte Dame», die als «sehr poetisch» und «äusserst schön» beschrieben wird. Der engen Verbindung gehen kühle Annäherungsversuche voraus: Keiner der drei Besitzer hat ein fundiertes Wissen über Akustik und Tontechnik. Mehr als einmal platzt Stefano ins Studio während Frank schneidet und stellt fest: Der hat doch keine Ahnung von dem, was er tut. Doch der Antrieb ist gross: Es ist Idealismus, der die junge Gruppe weitermachen lässt. Ihre Begeisterung ist stärker als jegliches marktwirtschaftliche Interesse, die drei wollen es einfach wissen. «Unternehmerische Pfeifen» nennt Frank sich und die anderen, die plötzlich mit Geldfragen, Buchhaltung und Geschäftsführungsaufgaben konfrontiert sind – Dinge, mit denen sie eigentlich nie etwas zu tun haben wollten.
Es gibt also nur einen Weg: Für 500 Franken eine Kiste mit Plattenrohlingen kaufen und schneiden, schneiden, schneiden. Der hohe Pegel des Veranstaltungsbarometers in der Dancehall- und Drum‘n‘Bass-Szene erweist sich als Glücksfall für das Studio: Die DJs lassen sich bei Centraldubs ihre Dubplates – Platten-Einzelstücke – schneiden, und während der Blütezeit der Reggae-/Raggaszene kommt es regelmässig zu nächtlichen Aufnahme- und Schneidesessions mit jamaikanischen Musik-Koryphäen, die in Bern für Konzerte gastieren. Über das Berner Soundsystem «Goldrush Int.» hören die karibischen Stars vom Studio und der Maschine. In der Reggaekultur ist die Schallplatte – insbesondere das kleinere 7″-Singleformat – ein glorifiziertes Medium, eine Art Materialisierung der Musikkultur. Und die Maschine, welche Dubplates herstellen kann, demzufolge ein Objekt mit anbetungswürdiger Ausstrahlung. Die Musiker verschanzen sich nach ihren Auftritten in Bern nächtelang im Studio, wo sie ihre neusten Tracks aufnehmen.
Als die Reggae-Szene zusammenbricht und man im Studio beschliesst, nur noch das Mastering und Schneiden anzubieten, lebt Centraldubs weiter vom Ruf und den gesammelten Erfahrungen: Die Auftragsdichte ist während den zehn Jahren ständig gekoppelt an die Kulturkonjunktur. Im Nischenmarkt Vinyl, der von renommierten Musikern nach wie vor bespielt wird, bleiben die Berner am Ball.
«Unsere Releases werden immer noch auf Platte gepresst», sagt Andreas Ryser von der erfolgreichen Berner Dub-/Elektronika-Band Filewile, «heute sind es aber eher kreative Produkte, originelle Gadgets, die auf die Musik aufmerksam machen». Ryser, der auch das Label «Mouthwatering Records» betreibt, hat seit Jahren Kontakt zu Centraldubs. Die Veröffentlichungen von Filewile – jüngst die Single «On The Run» – werden dort gemastert, Adi Flück, inzwischen bei Centraldubs als Mastering-Ingenieur engagiert, ist der Konzertmischer auf den Touren. Analog dem Grundgedanken von Centraldubs ist Rysers Schaffen nur mit idealistischem Antrieb möglich. Die ersten Schnitte liess Filewile in Deutschland machen, wo die
Schneidstudios industrielle Grösse besitzen. «Das Resultat war enttäuschend. Dort wurde mit fixen Einstellungen gearbeitet, für dynamische Musik waren das falsche Voraussetzungen», erinnert sich der Berner Musiker, der als DJ Dustbowl bekannt wurde. Sein Anspruch ist grösser: «Schallplattenherstellung ist ein individueller Prozess, der viel Wissen voraussetzt». Die erneute Suche nach einem entsprechenden Studio endete im ersten Kontakt mit Centraldubs. Filewile ist nicht die einzige Musikinstitution von nationaler Grösse, die auf das kleine Berner Studio gestossen ist: Die Vinylausgabe des letzten Albums der Schweizer Altmeister «Yello» wurde in der Wasserwerkgasse 5 gemastert und geschnitten. Boris Blank, die tüftlerische Hälfte des erfolgreichen Duos, klopfte nach Absagen von renommierten Studios an die Türen in der Wasserwerkgasse mit der Frage, ob man die Platte nach seinen individuellen Klangvorstellungen schneiden könne.
«Klar», war Franks Antwort, auch wenn sich das im Nachhinein als sehr komplexe Aufgabe herausstellte. Im Unterschied zu digitalen Medien nämlich wird beim Abspielen einer Schallplatte die Klanginformation, die als komplexe Wellenform in die Platte eingeritzt ist, von einer Nadel analog abgetastet. Bestimmte Tonhöhen und hohe Lautstärken versetzen die Nadel in so schnelle Bewegungen, dass sie die Information nicht mehr einwandfrei wiedergeben kann. Entweder lässt man als Vinylmastering-Engineer die Finger von so einem Fall oder versucht vor dem Schneiden – mit gezielten Eingriffen in das Klangbild – solche Verzerrungen zu vermeiden.
Zu Zeiten, in denen selbst Heimelektronik-Riesen wie Media Markt wieder Vinyl im Sortiment führen, bleibt die Nachfrage nach Schallplatten konstant. Konstant niedrig, aber dennoch wird die Maschine im Studio regelmässig angekurbelt. Das Schneiden alleine ist für Centraldubs defizitär. Hingegen bleibt das CD-Mastering ertragsreich für das Studio. Doch damals wie heute ist das marktwirtschaftliche Vokabular der inzwischen zum Quartett angewachsenen Crew fremd geblieben. «Nur deshalb», meint Frank, «gibt es Centraldubs überhaupt noch, und nur deshalb wird es das Studio auch in Zukunft geben». Vom Plattenschneiden alleine kann er nicht leben. Den Anspruch an das Studio, keine Lebensunterhalte finanzieren zu müssen, lässt die Institution weiterhin funktionieren. Auch wenn sie während Teilen der letzten zehn Jahre buchstäblich von der Oberfläche verschwunden war: «Es gab Zeiten, da war Centraldubs in ein Loch zwischen wechselnden Vermietern gerutscht. Niemand wusste eigentlich, dass es uns noch gibt. Der neue Vermieter hatte uns vergessen, und wir machten in diesem Leerraum weiter», erinnert sich Frank. Bis die Miete wieder bezahlt werden musste und Central Dubs aus dem Reich der Scheintoten auferstand. Mit der neuerlichen Welle von Dubstep-Musik wurde auch Centraldubs mit Aufträgen überschwemmt. Die elektronische Musik aus England mit basslastigem Reggae-Einschlag ging wie ein Buschfeuer durch die helvetischen Clubs, und innerhalb von zwei Wochen strömten DJs aus der ganzen Schweiz wieder ins zentrale Studio in der Matte.
Während sich Vinylliebhaber pessimistisch geben und Berner Kulturjournalisten das Medium dem Fortschritt opfern wollen, schaut man bei Centraldubs relativ gelassen der Zukunft entgegen. Mit Adi Flück ist bereits die zweite Generation an Ingenieuren im Haus und es soll sich weiter öffnen. Centraldubs ist zu klein, um davon zu leben und zu gross, um es aufzugeben. Und genau diese Balance ist der Lebenshauch der Firma. Für Frank ist es nach wie vor ein Privileg im Studio zu stehen, wenn jemand sein Material bringt, um es auf Platte schneiden zu lassen. «Diese Gelegenheit zu besitzen, alte Dubstücke aus Jamaika zu Ohren zu bekommen, nur weil ein DJ für diese Musik lebt, ist grossartig. Dann liebe ich es, diese Musik zu schneiden, sie zu hören, bis sie wieder verschwindet». Er selbst besitzt keine einzige Platte mehr. Während es im Studio um Qualität und Pegel knapp unter dem roten Bereich geht, ist sein Zuhause ein Ort der Stille: «Ich habe ein Cello und manchmal höre ich Radio».
Früher oder später drängt sich die Frage auf: Weshalb scheiden sich in der High Fidelity-Gemeinde seit jeher die Geister am Streitpunkt, ob nun digitale Medien oder analoge Schallplatten besser klingen? Kennt man im Centraldubs ‑Laboratorium die Antwort auf das Mysterium, welches von strenggläubigen Vinylverehrern – «Schallplatten klingen wärmer» – bis zu der Gruppe, die sich um höchstauflösende Digitalmedien schart – «CD‘s haben einen klaren Sound» – niemand erklären kann? «Im Endeffekt bringen Schallwellen über eine Spule die Lautsprechermembran in Bewegung», erklärt Frank. Digital generierte Wellenformen können Bewegungen annehmen, die analog nicht realisierbar sind, das heisst, die eine Membran nicht ausführen kann. «Der Stichel der Schneidmaschine verhält sich analog zur Membran und produziert nur Wellenformen, die eins zu eins vom Lautsprecher realisiert werden können», und darin sieht der Ingenieur den Unterschied. Ob das nun besser klingt sei nach wie vor eine Geschmackssache. Der Knackpunkt, so Frank, sei eher, dass das Aufnehmen viel einfacher geworden ist. Heute braucht man einen kleinen Rekorder und jeder kann eine CD machen. Früher benötigte man riesige Tonstudios. Der Unterschied: Damals wussten die Leute aber auch, was sie machten. Nur so kommt die Qualität zustande.
Foto: Felicie Notter
ensuite, November 2010