Von Sonja Wenger — Das Werk von Peter Bichsel sei gleichzeitig bei «populärer Kumpelhaftigkeit und radikaler Kunst» anzusiedeln, das wird an einer Stelle im Dokumentarfilm «Zimmer 202» gesagt. Dasselbe darf wohl auch für den Menschen Bichsel gelten. In seinem Porträt über den «einzigen populären Schweizer Schriftsteller», der vor allem für seine Kurzgeschichten und Kolumnen bekannt ist, zeigt Regisseur Eric Bergkraut abwechselnd den Beobachter von Politik und Gesellschaft mit sozialistischem Herz, bissigem Wortwitz und radikaler (Selbst-) Ehrlichkeit wie auch den Kumpel von nebenan, der mit Gott und der Welt ein Bier oder ein Glas Wein trinkt, Kette raucht und der beinahe mehr über seine Mutter als über seine verstorbene Ehefrau spricht.
Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag kommt ein Porträt über Peter Bichsel ins Kino, bei dem die Macher einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ansatz gewählt haben: Bichsel gelte als Kenner von Paris, erklärt Regisseur Bergkraut aus dem Off, obwohl er die Stadt nie besucht habe. Nach einigem Bohren habe er den Schriftsteller dazu bewegen können, mit dem Filmteam eine Zugreise nach Paris zu unternehmen, sich dort im Zimmer 202 im Hotel Gare de l’Est einzuquartieren und ohne weitere Vorgaben einfach mal zu sehen, was passiert.
Passieren tut dabei tatsächlich nicht viel, doch bewegt sich allerhand. «Zimmer 202» ist ein filmisches Porträt, das sichtbar versucht, Klischees und Pathos zu vermeiden und das gerade deshalb nicht darum herumkommt, strek–kenweise knietief darin watet, nur um sich dann selbst darüber lustig zu machen. Bergkrauts Dokumentarfilm ist überraschend, erfrischend, witzig, und viele von Bichsels Worte, Gedanken und Gefühle klingen lange nach.
Bichsel geht also auf eine Reise und das Publikum geht mit, kann im Zug und im Hotelzimmer und im kleinen Bistro um die Ecke ganz nah bei ihm sitzen und zuhören, wenn er seine Gedanken formuliert. Dieser kluge Kopf spricht über die Liebe und wie sie sich von der Ehe unterscheidet. Über die Politik und welche Enttäuschung es ist, dass sich nichts verändert. Er redet über die Schweiz, die Armee und die Macht, über seine Bilder im Kopf, Pariser Clochards und Jean Gabin, über das Kochen, über Gross- und Kleinstädte, über die Tour de France, Patriotismus, über Trauer und Verlust. Das ist irgendwie schön, das ist sympathisch, das ist inspirierend.
Denn bei aller Abgeklärtheit und Lebenserfahrung scheint es für Bichsel noch immer gleichzeitig Last und Lust zu sein, in einem Land wie der Schweiz zu leben. Nicht von ungefähr sagt er «meine Heimat ist, wo mein Ärger ist». Und etwas, um sich zu ärgern oder um darüber nachzudenken, findet Bichsel immer, sei es sein «patriotisches Würgen», wenn ein Schweizer beim Radsport gut abschneidet, sei es der Sozialismus von heute oder sein Verhältnis zur Religion. Bichsel zuzuhören animiert dazu wieder mehr zu politisieren, zu lesen, zu kämpfen und sich mit den kleinen Dingen des Alltags auseinanderzusetzen.
Untermalt mit einem dezent eingepassten Soundtrack von Sophie Hunger, hat Bergkraut seinen Film aus drei Elementen zusammengesetzt, zwischen denen konstant gewechselt wird: der Reise nach Paris, Rückblicken mit Archivaufnahmen des Schweizer Fernsehens und dem Alltag in Bichsels Zuhause – dazwischen immer wieder Ausschnitte aus Bichsels Geschichten. Streckenweise irritiert dieses Hin- und her, die Reise nach Paris erscheint immer wieder wie ein künstliches Element. Dennoch fehlt es nicht an Tiefe. Zudem wirkt Bichsel als Mensch und als Künstler nie verkopft, nie irgendwelchen Dogmen unterworfen.
Dies hat allerdings mehr mit beinharter Arbeit zu tun als mit einem Charakterzug, sagt Literaturprofessor Peter von Matt: «Was Bichsel tut, sieht nur leicht und locker aus.» Dahinter stehe ein Kampf um jedes Wort. «Diese Arbeit extra einfach wirken zu lassen, das ist Raffinesse.»
Das Bichsel sehr wohl ein Meister der Worte und sich deren Wirkung bewusst ist, zeigt sich in jenen Filmszenen, in denen er über seine Familie, Einsamkeit und Trauer spricht. Beinahe scheint es, Bichsel erzähle seine Geschichten das erste Mal und entblösse sich emotional vor der Kamera. Doch gerade hier spürt man den akribischen Beobachter und besonnenen Denker, dessen Aussagen frei von Peinlichkeiten und Naivität sind – eine Seltenheit in der Schweiz, in der die Kombination von Bodenständigkeit und Intellekt noch immer misstrauisch beäugt wird.
Bichsel weiss das wohl schon lange – und hat seinen Frieden damit gemacht. Und nach diesem gelungenen Porträtfilm können wir es vielleicht auch.
Der Film dauert 88 Minuten und kommt am 25.3. in die Kinos.
Foto: zVg.
ensuite, März 2009