Von Claudia Langenegger — Dani Levy bringt einen neuen Film ins Kino. Er heisst «Das Leben ist zu lang», und erzählt aus dem turbulenten Leben des Regisseurs Alfi Siegel. Dieser steckt in einer tiefen Lebenskrise: Der letzte Erfolg ist Jahre her, sein neustes Drehbuch will keiner, seine Familie findet ihn lächerlich, und es drohen auch noch seine sämtlichen Ersparnisse mit der Hausbank flöten zu gehen. Einziger Ausweg scheint Selbstmord, der in einem Versuch endet, und die Realität in eine surreale Traumwelt verwandelt – oder ist der Schein das wahre Sein?
Der Basler Regisseur, der seit über dreissig Jahren in Berlin zuhause ist, liebt das cineastische Spiel mit Zweideutigem, Humor und Tiefgründigkeit. Ensuite hat Levy an dem Platz besucht, wo er sein Werk geschrieben hat: im Wochenendhäuschen an einem idyllischen Flecken in Brandenburg.
Ein ehemaliges Bootshäuschen mit breitem Gartenplatz und Steg, davor die Havel, die gemächlich dahindümpelt. Am Flussufer viel Schilf, irgendwo weit hinten hoher Laubwald, und darüber endloses, wolkiges Blau. Riesige Bäume umrahmen mit tief herunterhängenden Ästen die Aussicht. Kraftvoll, entspannend. Levy liebt diesen Ort. Und der Ort liebt ihn: er hat den Basler beim Schaffen seiner grössten Erfolge inspiriert: Die Scripts für «Alles auf Zucker», «Mein Führer» und das multimediale Strassentheaterstück «Freie Sicht aufs Mittelmeer» fürs Theater Basel sind hier entstanden. Auch seinen jüngsten Wurf «Das Leben ist zu lang» hat Levy an seinem idyllischen Rückzugsort geschrieben, der hinter wildem Gebüsch versteckt, in einem unscheinbaren Kaff im Westen Berlins liegt.
Levy sitzt am verlebten Holztisch vor seinem Wochenendhäuschen, isst Oliven, Käse und Vollkornbrot und trinkt dazu rabenschwarzen Kaffee aus der italienischen Kaffeekanne.
Der Regisseur Levy erzählt in seinem neusten Werk vom Regisseur Seliger, der, wie Levy selbst, zwei Kinder hat, im Sternzeichen Skorpion geboren ist, etwa gleich alt und jüdisch ist. Könnte es sein, das dies ein autobiographischer Film ist?
«Natürlich nicht», sagt der Filmemacher, «aber er hat schon mit mir zu tun. In meinen Filmen beschäftige ich mich immer mit Dingen, die in mir schmoren und gären.»
Zwar gibt es Parallelen, aber anders als der Film-Protagonist ist Levy kein erfolgloser Regisseur in zerrütteter Ehe, der seine gesamte Umwelt nervt. Im Gegenteil. Mit «Alles auf Zucker» hat er sich in den Olymp der deutschsprachigen Filmschaffenden katapultiert. Die Komödie räumte 2005 bei den deutschen Filmfestspielen ab: sechs Auszeichnungen, darunter eine für die beste Regie. Im selben Jahr gewann er den Ernst-Lubitsch-Preis und wurde dabei für die «Wiederbelebung des deutsch-jüdischen Lustspiels» geehrt. Mit seiner Frau Sabine Lidl – Dokumentarfilmerin und Maskenbildnerin – hat er zwei Kinder: Hannah, 10 und Joshua, 2. Arbeitet er, ist sie Familienoberhaupt, arbeitet sie, ist er das Familienmami. Sie führen eine gut funktionierende, moderne und glückliche Familie.
Der Film ist dennoch proppevoll von ganz persönlichen Erfahrungen. «Meine Grundidee war, eine Geschichte über einen Künstler inmitten des Irrsinn des Alltags zu drehen», sagt Levy. Und schmunzelt: «Diesen Irrsinn kenne ich nur allzu gut». Er erzählt, wie anstrengend Leben und Beruf manchmal sein können: Mit jedem Projekt fängt er wieder bei Null an, und er ist stets von grossen Geldgebern und ihrem Goodwill abhängig. Doch das, was am meisten an ihm zehrt, ist seine Zerrissenheit zwischen Kunst und Familie. «Ich liebe es, dass ich in meinem Beruf meinen Träumen, Fantasien und Sehnsüchten nachgehen kann», sagt er. «Doch sobald ich mich jeweils zum Schreiben zurückziehe, vermisse ich meine Familie sofort und enorm.» Sobald er aber in seine kreative Welt abgetaucht ist, hat er kaum mehr Zeit, sie mit seinen Lieben zu verbringen. Beides zusammen? Geht nicht.
Beim Dreh zu diesem Film hatte er aber zumindest ein Familienmitglied fast ständig um sich: seine Tochter spielt die Filmtochter Romy Seliger.
Ist es nicht ein Risiko, einen Film zu drehen, der so viel von sich preisgeben kann? Und der, weil er so nahe am eigenen Selbst ist, Gefahr läuft, in Sentimentalitäten abzudriften, weil sich der Macher zu wenig an die Grenzen wagt?
«Natürlich ist das schwierig, die kreative Distanz zu wahren, wenn man so viel von sich in die Geschichte steckt. Aber Gefahr reizt, Gefahr ist sexy. Mich reizen Dinge, die riskant sind, Vieldeutiges und Doppelbödiges. Alles andere wäre zu langweilig.»
Levy tat auch diesmal das, was er immer tut: eigensinnig seine Idee verfolgen.
Das Risiko, seine Tochter mitspielen zu lassen – Hannah lag ihrem Papa lange in den Ohren, beim Casting stellte sie sich tatsächlich als Idealbesetzung heraus – hat sich gelohnt: das Mädchen spielt den griesgrämigen Teenager äusserst überzeugend.
Ebenso gut sind die anderen Darsteller: seine frustrierte Ehefrau, gespielt von Meret Becker, Markus Hering als Alfi Seliger und etwa Yvonne Catterfield als Serien-Sternchen. Sogar Veronica Ferres nimmt man nach einem kurzen innerlichen «Ach, klappt das?» die überdrehte russische Nymphomanin ab.
Mit dem Plot mit einem Regisseur als Protagonisten wagt sich Levy auf riskantes Terrain. Natürlich haben schon viele Filmemacher Filme über Regisseure gedreht – wie Levy selbst sagt. Aber das haben eben auch die ganz Grossen der siebten Kunst gemacht. Eines der berühmtesten Beispiele ist vielleicht Federico Fellinis «Otto e Mezzo» (1963), der mit traumhaften Sequenzen und einem verwirrten Regisseur bezaubert, einer seiner besten Filme. François Truffaut hat sich in «La Nuit Américaine» (1973) auf das Spiel mit Sein und Schein auf dem Film-Set eingelassen, Woody Allen stellt in «Crimes and Misdemeanors» (1989) einen glücklosen Filmemacher in den Mittelpunkt.
Und Levy? Er erzählt vom Filmemacher und Vater, der bis zum Hals in Problemen steckt und als einzigen Ausweg den Selbstmord sieht – der scheitert, und den Protagonisten in einer seltsam realen Scheinwelt erwachen lässt.
So unterhaltsam der Film ist, er kommt nicht an die Grossen und auch nicht an sein eigenes Meisterwerk «Alles auf Zucker» heran. Die Geschichte kommt humoristisch daher, doch dem komödiantischen Trubel fehlt es an Bösartigkeit und Schärfe, mit der Levy in «Alles auf Zucker» begeisterte. Etwas brav sind die Gemeinheiten seiner Liebsten, und etwas gar klischiert wird die Welt des Films wiedergegeben.
Doch als Levy mit der surrealen Welt des Scheins und Seins zu spielen beginnt, ändert sich die Stimmung des Films, er treibt das Spiel mit der cineastischen Fiktion gekonnt.
Wo und wie die Grenzen verlaufen, was das alles soll, wo der Schein zu Ende ist und das Sein anfängt – der Zuschauer begreift nicht mehr. Einzelne Szenen erinnern an Fellinis traumhaft versponnene Fantasie, diese wird mit harter Realität gegengeschnitten, und dann doch wieder nicht aufgelöst. Der Schluss steht ganz in der Tradition der grossen französischen Cinéasten, indem das Ende offen bleibt. Der Zuschauer ist erst mal ratlos, dann in Gedanken versunken: Gaukelt die Traummaschine Kino uns etwas vor, oder ist es das Leben, das mit seinen Träumen und Fantasien eine Illusion ist?
Levy will zu Gedanken anregen. Wie der Film-Regisseur Seliger ist der Basler trotz seines leichtfüssigen Humors kein Freund der oberflächlichen Muse.
Levy will Filme drehen, die seine ganz spezifische Handschrift tragen, die eigenwillig sind. Er will wagen und intelligent unterhalten. Levy ist immer in Bewegung, getrieben von all der Fantasie und den Gedanken, die in ihm gären und schmoren.
Fast eine Stunde erzählt Levy über seinen Film, seine Zerrissenheit zwischen Kunst und Familie, schwärmt von seinen Kindern, von der Tiefsinnigkeit des jüdischen Humors, und seiner Liebe zum einfachen Leben. Er wirkt zufrieden, strahlt eine Gelassenheit aus wie einer, der sein Leben lang stets seine Ideen verfolgt. Egal, ob diese von Erfolg gekrönt sind oder nicht. Hauptsache, seine Werke sind authentisch und beseelt, Hauptsache er tut es mit Kraft und Leidenschaft.
Levy steht auf, geht über den Holzsteg nach vorne zum Wasser, blickt über die glitzernde Oberfläche hinweg in die Weite des Grüns und des Endlosen und sagt nur: «Schön, nicht?»
Foto: zVg.
ensuite, September 2010