Von Peter J. Betts — Zu einer kurzen Reise ins Irrenhaus führte am letzten Novembertag das DRS2 Sachbuchtrio. Die Schulreise im Wandel reflektierte am Montag, dem 30. Mai 2011 in der NZZ unter «Bildung und Gesellschaft» Beat Grossrieder. Über das «Angstsparen» – eine neue «Wortschöpfung» zu einem altes Phänomen, dem Konsumverzicht angesichts fragwürdiger Zukunftsaussichten –orientierten ebenfalls am letzten Novembertag die «Hundert Sekunden Wissen» auf DRS2. Einen Tag zuvor formulierte Michael Schoenenberger in der NZZ unter dem Titel «Freiheit für unsere Kinder» ein Plädoyer gegen die ständige Kontrolle des Nachwuchses. Und ebenfalls auf der gleichen Seite 13 zeigte Pirmin Schillinger auf, wie in Luzern der Unmut gegenüber der Partystadt wächst. Die Gemeinsamkeit der fünf Beispiele? Eine Reise aus dem Irrenhaus heraus: investigativer Journalismus. Bei dem Begriff fällt mir sofort Günter Wallraff ein. Etwa, als er die Mechanismen der Militärdiktatur in Griechenland verstehen wollte, ihm via Folter durch die Sicherheitsbeamten übel mitgespielt wurde, auch anderswo wurde wohl mehrere Male versucht, ihn wenigstens mit Hilfe der Gerichte mundtot zu machen. Das am Radio besprochene Sachbuch hatte aber nichts mit Wallraff zu tun; die Autorin des Buches war ein – damals – junges Mädchen mit gewinnendem Lächeln: 1887 liess sich Nellie Bly als Undercover Journalistin, als so genanntes «Stunt Girl», im Irrenhaus für Frauen in der Nähe von New York einweisen. Die – Institution war (auch?) damals eigentlich Tabu-Gebiet für die Gesellschaft. Eine Unzahl von Frauen jeglichen Alters, meist aus unteren sozialen Schichten, verschwand dort – wenn die Angehörigen oder «Verantwortlichen» Glück hatten – für immer. Psychiatrie ist in dem Falle ein billiger Euphemismus. Im damaligen Amerika hatten höchstens zehn bis zwanzig Prozent der Ärzte einen medizinischen Abschluss. Das psychiatrische Instrumentarium bestand aus Erniedrigung, Bestrafung, Hunger, Angst, Isolation. Frau Bly musste sich vor allen erst nackt ausziehen, ihre Kleider wurden konfisziert, sie erhielt schmutzige, mottenzerfressene Lumpen zum Anziehen. Sie versuchte, sich so normal wie möglich auszudrücken und zu verhalten. Je normaler sie sich gebärdete, als umso verrückter wurde sie eingestuft. Nach Protesten wurde ihr zum Essen eine Kartoffel und verdorbenes Fleisch gegeben (Essbesteck gab es in der Anstalt nicht). Irgendwie gelang es ihr, als Überlebenshilfe das Tagebuch zu führen, das als Basis für ihren späteren Artikel diente. Nach zehn Tagen löste der Verleger sein Versprechen ein, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um sie wieder frei zu bekommen. (Auch Wallraff wurde nicht mehr gefoltert, als seine Identität bekannt wurde, er kam vor Gericht und dann ins Gefängnis bis zum Sturz der Militärdiktatur.) Frau Bly, wie andere Stunt Girls auch, war also eine der Mütter des investigativen Journalismus. Ein höchst gesuchtes Werkzeug im Kampf um begeisterte KäuferInnen/LeserInnen, während sich die einander konkurrierenden und auswuchernden Zeitungsimperien zu übertrumpfen versuchten. Die Reise ins Irrenhaus leitete in der Wirklichkeit mit der Zeit sichtbare und damit beruhigende Veränderungen ein, selbst wenn die Motivation der Übung rein monetär gewesen war. Was ist das für eine Kultur, wo humanitäre Fortschritte höchstens als Abfallprodukt von Gewinnstrategien verstanden werden können? Heute? Die Schulreise als gemeinschaftliches, nachhaltiges Erlebnis durch persönlichen Einsatz der Lehrkräfte und der SchülerInnen verstanden (vielleicht mit hehren pädagogischen, heimatkundlichen, methodischen Zielen ideologisch verbrämt), ist heute im Rahmen des Eventkultes zur lukrativen und sehr nachhaltigen Profitquelle mutiert. «Action» wird via finanzkräftiges Sponsoring und professionelle PR geboten. «Skywalk» (eine begehbare Hängebrücke), «Alpamare», «Aquaparc», «Axporama», «Bern Aqua», «Creaviva», usw. heissen die von Werbefachleuten getauften Lockvögel. Das SBB-Reisebüro übernimmt zum Beispiel die Buchungen. «Erlebnisschulreise inklusive Velofahren im Stollen und Abseilen an der Staumauer» – so werben die Kraftwerke Oberhasli. Wen wundert es, wenn eine fünfte Klasse im Kanton Aargau mit einem Budget von 35’000 Franken für 20 Schülerinnen während einer Woche nach Norwegen fährt, um Pottwale zu beobachten, oder eine andere Klasse einen sechstägigen Segeltörn auf dem niederländischen Ijsselmeer (Fr. 500.- pro Kopf, ein Schnäppchen) absolviert? Und so weiter. Organisationsprofis am Werk. Lehrkräfte können sich auf – ihr Kerngeschäft konzentrieren. Das Sponsoring feiert Urstände, das Geschäft blüht. Schulreise im Wandel. Wundert es Sie, angesichts solcher Hintergründe vom Phänomen des «Angstsparens» zu hören? Anscheinend unbeirrt durch die scheinbar unbesiegbaren Strategien der Werbung. Wie zu Grossmutters Zeiten wird etwas zur Seite gelegt – für schlechtere Zeiten. Schlechtere Zeiten? Quatsch. Eurokrise? Quatsch. Zerbröckelnde Staatengemeinschaften? Quatsch. Folgen des zu hohen Frankenkurses? Quatsch? Bedrohte Arbeitsplätze? Quatsch. Weiterklaffen der Schere zwischen Superreich und Superarm? Überschwemmungen, Hurrikane, Dürren? Ausbeutung der Rohstoffe? Abfallberge zu Land und zu Wasser? Verschmutzung von Erde und Wasser? Unsichere Zukunft? Alles Quatsch!!! Die Zeiten werden besser! Tempora mutantur. Alles wächst! Und überhaupt: wenn das aus Angst Ersparte dringend nötig werden sollte, wird die Währung eh so tief gefallen sein, dass ihr mit dem Ersparten höchstens die Hintern putzen könnt. Angstgstsparen? Lange vor Weihnachten, lange vor Ostern und auch sonst bei jeder Gelegenheit werden die Angebote, die so genannten Aktionen in den Warenhäusern einander jagen und übertrumpfen. Das Geschäft wird blühen. Zu Grossmutters Zeiten war das eben anders. Dem Angstsparen kann heute wirkungsvoll begegnet werden. Unsere Kultur findet die Mittel. Unsere Kultur hat alles im Griff. Falls dennoch Beschwichtigung nötig sein sollte: unsere Zukunft, unsere Kinder also, werden von Eltern und Staat wie nie zuvor behütet. Und das soll ihre körperliche und seelische Entwicklung hindern? Herr Schoenenberger, auch wenn er in der NZZ schreibt, irrt: eine andere Erklärung gibt es nicht. Das gemäss Uno-Kinderrechtskonvention geforderte Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bewegung, eigenen Raum und Freiheit soll hier bedroht sein? Ein bisschen Kontrolle des Nachwuchses, örtlich durch GPS-Geräte und jederzeit und überall mögliches Abhören sollen verwerflich sein? Wir hinterlassen doch alle, ob gross oder klein, ständig leicht kontrollierbare – und kontrollierte – Spuren, etwa mit Kreditkarten, Mobiltelefon, Überwachungskameras. Orwells «1984» Realität? Quatsch, dient doch unserer aller Sicherheit, unserer gesicherten Zukunft. Widerstand in der Partystadt Luzern? Über Jahrzehnte stand in Luzern die Kulturpolitik vollumfänglich im Dienste der Tourismusindustrie. Ein erfolgreiches Aufputschmittel. Die Kulturabteilung – generell, nicht nur in Luzern ein beliebtes Prügelkind – war auch in Luzern nur ein Rädchen im gut geschmierten Getriebe. Aufputschmittel haben ihre Nebenwirkungen, aber bleiben notwendig. Littering, Gewaltexzesse, Alkoholmissbrauch, Lärm? Die Einheimischen bleiben in ihren vier Wänden, sogar der Tourismusstrom könnte einen tieferen Pegelstand erreichen? Das kann doch leicht mit Kontrolle in den Griff gebracht werden. Bereits schon 1887 wurde (in unserem Beispiel in Irrenhäusern) den Missständen jeweils mit kosmetischen Eingriffen begegnet, ohne den Ursachen zu Leibe zu rücken. Nach wie vor ein höchst aktueller Mechanismus. Diese Kultur haben wir verfeinert, wie man tagtäglich den in- und ausländischen Nachrichten entnehmen kann. Keine ungewisse Zukunft? Eine Gesellschaftseise ins Irrenhaus?
Foto: zVg.
ensuite, Januar 2012