Von Heinrich Aerni - Was tun, wenn es einem nicht vergönnt war, die grossen Festspiel-Orchesterkonzerte mit legendären Altmeistern und genialen Neulingen am Dirigentenpult zu besuchen? Während sich im Bereich der populären Musik die Besprechung von Konzerten und Platten-Neuerscheinungen weitgehend ins Internet verlagert hat, kann man im Bereich der Klassik wie vor hundert Jahren und noch früher auf die guten alten Rezensionen in den gedruckten Zeitungen zurückgreifen.
Im Folgenden soll untersucht werden, wie weit es möglich ist, sich aufgrund der Berichte im Tages-Anzeiger und in der Neuen Zürcher Zeitung ein Bild zu machen, was und wie gespielt und gesungen wurde. Elf Kritiken liegen vor zu sechs Tonhalle-Konzerten: Das Collegium Novum UND das Tonhalle-Orchester nacheinander am selben Abend, mit Heinz Holliger als Dirigent, dem Schweizer Kammerchor und der Sopranistin Juliane Banse, mit viel Kurtág und Schumanns Zweiter; Herbert Blomstedt mit einem Mozart-Klavierkonzert und Dvoráks Achter (nur von der NZZ rezensiert); das Opernhaus-Orchester unter Ingo Metzmacher mit Schönbergs Violinkonzert, gespielt von Benjamin Schmid, und Brahms’ Vierter; Bernard Haitink mit dem Berg-Violinkonzert, gespielt von Leonidas Kavakos, und Bruckners Neunter; der 35-jährige Yannick Nézet-Séguin mit Berlioz’ «Nuits d’Été», gesungen von Anna Caterina Antonacci, und der «Symphonie Fantastique»; und schliesslich nochmals das Orchester der Oper Zürich unter Philippe Jordan mit den Rückert-Liedern, gesungen von Thomas Hampson, und Dvoráks Neunter.
Die Kriterien sind erstens: Ist der Standpunkt des Rezensenten klar erkennbar? Professionell und versiert genug sind die Autorinnen und Autoren, um dem Text genügend persönliches Profil zu verleihen, aufgrund dessen eine Abstraktion möglich ist. Es lässt sich jedoch oft nicht kaschieren, dass sie mit der Programmauswahl nicht viel anfangen können, und entsprechend indifferent bleiben, was auch verständlich ist, besteht doch das Repertoire aus einer erschreckend kleinen Anzahl immer wieder gespielter Werke. –
Zweitens: Erfolgt ein Bericht darüber, wie gespielt und gesungen wurde? Dies ist der einzige Punkt, der überhaupt noch von Interesse sein kann bei beinahe zu Tode gespielten Stücken wie etwa Brahms’ Vierter, oder Dvoráks Neunter. Gerade hier klaffen die Berichte am meisten auseinander. Während in den an sich schon knapp bemessenen Tagi-Artikeln oft unverhältnismässig viel Raum für Hintergrundinformationen verbraucht wird, bleibt eine eigentliche Beschreibung ganz aus. (Die Jordan-Kritik etwa des Tagi umfasste 1500 Zeichen, diejenige der NZZ immerhin 2500). Viel mehr zum Punkt kommen hier die Berichte der NZZ, in denen auch einmal ein praktischer musikalischer Hintergrund der Journalisten durchzuschimmern scheint, wenn etwa Blomstedts Schlagtechnik kommentiert wird, der offenbar «weitgehend auf Auftaktbewegungen verzichtete» und sich dadurch rhythmische Ungenauigkeiten einstellten. Im besten Sinn traditionell sind die Räume, die von der NZZ noch gewährt werden, um Aufführungen in solch grossartiger Weise nacherlebbar zu machen: «Dieser Schlussakkord: Niemand, der ihn gehört hat, wird ihn vergessen – wenigstens niemand, der Ohren hat zu hören und ein Herz zu fühlen. Ein einfacher E‑Dur-Akkord mit der Quint als oberstem Ton liegt da in den Blechbläsern, während ihn die Streicher, nun aber mit der Terz zuoberst, dreimal gezupft dazugeben: an sich eine einfache Sache. Aber welches Mass an Erfüllung, an Ruhe und Frieden kam da zum Ausdruck. An Lösung auch – in dem Sinn nämlich, dass die unvollendet gebliebene Sinfonie Nr. 9 von Anton Bruckner gleichsam vollendet erschien.» –
Dritter Punkt: Erfahre ich bei unbekannten Werken etwas über die Musik? Auch hier ist in der NZZ viel mehr Platz dafür vorhanden, wenngleich es leider auch hier nie so weit kommt, dass tatsächlich der Versuch unternommen würde, musikalische Sachverhalte in Worte zu fassen, was wiederum an Vorgaben der Zeitung liegen könnte. Dennoch vermag etwa die inspirierte, formale Beschreibung von Kurtágs Zyklen «Messages» op. 34 und «New Messages» op. 34a einigen Aufschluss zu geben: «Sechs kurze Stücke im ersten, sieben im zentralsymmetrisch angeordneten zweiten Zyklus reihen sich. Jedes hat eine frappant klare musikalische Idee, jedes einen eigenen Ton, einen eigenen Klang, und jedes benennt mit musikalischen Mitteln auch emotionale Inhalte – ein unterhörter Reichtum tut sich da auf. Wie viel Phantasie (und Herzblut) steckt in den kurzen Werken.» –
Und viertens und letztens: Gibt es Hintergrundinformationen zu Musik und Aufführung? Wie schon erwähnt, lässt dieser Punkt an Breite und Tiefe nichts zu wünschen übrig, es drängt sich eher der Verdacht auf, dass die musikwissenschaftlich und allgemein philosophisch bestens geschulten Autoren sich auf kontextuellem Terrain um einiges sicherer fühlen als im Besprechen von musikalischen Sachverhalten und Aufführungsdetails. Wenn diese Not aber zur Tugend wird und, wie in der Tagi-Gesamtbeurteilung der Metzmacher-Matinée als «Stenogramm einer nachromantischen Erregung», literarische Züge erhält, kann es durchaus Spass machen.
Foto: zVg.
ensuite, August 2010