Von Frank E.P. Dievernich — Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene (XXIX): In Organisationen ist Zufriedenheit ein aussterbender Zustand. Bereits der Begriff hat sich in den Firmen seit Jahren kontinuierlich zurückgezogen. Wurden früher noch Mitarbeiterbefragungen durchgeführt, die darauf abzielten, den Zufriedenheitszustand der Belegschaft zu erheben, so geht es heutzutage um neusprachliche Begriffe wie «Commitment» und «Engagement». Wer will den heute schon noch wissen, ob Mitarbeitende zufrieden sind? Zufriedenheit war und ist noch nie eine organisationale Kategorie gewesen, folglich ist es nur konsequent, dass in Zeiten der Effizienzsteigerungen auch auf der Ebene von Begriffen reiner Tisch gemacht wird. Was gesiegt hat, ist die grundlegende Skepsis, die Organisationen gegenüber Menschen und ihren emotionalen Zuständen hegen, sind sie doch gefährlich, weil nicht klar ist, wie sie auf den (Re-)Produktionsprozess der Organisation einwirken. Es dürfte mittlerweile zweifelsfrei klar sein, dass die Logik der Ökonomie in alle Lebensbereiche eingedrungen ist. Bezüglich der Zufriedenheit bedeutet dies, dass sie nicht bloss aus den Organisationen ihren Rücktritt eingeleitet hat, sondern, dass sie sich still und heimlich aus der ganzen Gesellschaft verabschiedet; sie wird, wenn überhaupt, zu einer Kategorie des Intimen. Sie verschwindet aus dem offiziellen Sprachrepertoire der Individuen, gebrandmarkt mit dem Gefühl, dass sie nicht mehr zeitgemäss ist. Wir selbst, mit dem inkorporierten Blick der Anderen, verjagen uns aus dem Paradies eines guten Gefühls. Wer jetzt noch glaubt, dass sich dieser Blick der Anderen bloss aus jenen zusammensetzt, die aus den Reihen calvinistischer Firmengründer der ersten Generation, von Vertretern des Militärs und von geldgierigen Unternehmensberatern stammen, der irrt. Wir alle sind die Anderen, und es darf durchaus überraschen, dass es gerade die jüngere Generation ist, die sich der Zufriedenheit entziehen will, obwohl sie sie eigentlich mag und sich diese sogar wünscht. Aber darf man heute noch dürfen, wollen, wünschen, schlicht sich geborgen und gut fühlen? Es gibt Anzeichen, dass die junge Arbeitnehmergeneration, die sogenannte Generation Y, sich selbst nicht mehr gestattet, Zufriedenheit als zentrales Beurteilungskriterium von Arbeitskontexten gelten zu lassen. Diese Zensur hat das gesellschaftliche, ökonomische und organisationale Gewissen durchgeführt; es hat sich in uns imprägniert. Aber was genau ist eigentlich Zufriedenheit? Sie ist zuallererst nicht Wahrzeichen für eine aufkommende und lebensbedrohliche Trägheit, sondern ein Sensor dafür, dass der Mensch in einer Form des Einklangs mit sich und der Umgebung ist. Wer von Zufriedenheit spricht und diese auch fühlt, macht nichts anderes, als den Körper als Sensor in den sozialen Kontext einzuführen. Zufriedenheit als Beobachtungskategorie ist die Widereinführung der Körperlichkeit als Entscheidungsargument in die Organisation, einfacher gesagt, es ist die Wiedereinführung des Menschen als empfindsames Wesen in die Organisation, welches durchaus, eben anhand seiner Empfindungen, die Organisation in ihren Entscheidungsflüssen beeinflussen kann. Ist das Gefühl schlecht, regiert Unzufriedenheit oder Angst, dann ist das ein Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Wenn aber nun die Individuen selbst beginnen, ihre Empfindungen nicht mehr gelten lassen zu wollen, dann gibt es auch von Seiten der Menschen kein Korrektiv mehr, der Organisation mitteilen zu können, dass es reicht. Schlimmer noch, wenn es nun Organisationen und Gesellschaft geschafft haben, die eigenen Gefühlszustände, wie eben unsere heimelige Zufriedenheit, als Zeichen gegen uns selbst zu wenden. Das Ende der Selbstbestimmung ist nicht mehr weit. Wir selbst, wie das der Philosoph Byung Chul Han sagt, sind zum Big Brother unseres Selbst geworden. Die Selbstüberwachung und –kontrolle, die durch unser eigenes – Sigmund Freud hätte hier seine Freude – (gesellschaftliches) Über-Ich von statten geht, treibt es uns aus, sich dem inneren Seismographen, der Zufriedenheit horchend zuzuwenden. Wohlfühlen war gestern, heute ist Treibjagd auf unseren Wohlfühl-wollenden Gemütszustand angesagt. Dabei ist es doch genau dieser Zustand, der eine Erholung vom organisatorischen und gesellschaftlichen Stress erst ermöglicht. Gestatten wir diesem nicht mehr, sich in uns auszubreiten, dann nehmen wir ihm die Ressource, um in der gesellschaftlich- und organisatorischen Dynamik weiter mithalten zu können. Diese Katastrophe trifft auch die Organisation: Ist der körperliche und damit individuelle Seismograph der Organisation einmal entzogen, ist die beste Voraussetzung geschaffen, dass sie beginnt, sich von den Menschen im Allgemeinen und den Kunden im Speziellen zu entfernen. Das Resultat sind dann Organisationen, die nur mehr mit sich selbst spielen und auf sich reagieren. Sie sind hermeneutisch abgeriegelt und stellen dennoch den dominierenden Kontext für die Menschen dar. Die Menschen greifen auf sie zu, da es keine Alternativen mehr gibt. Auf Seiten der jungen Generation ist in Reaktion darauf ein Rückzug ins Private zu bemerken, der eine neue Form des Konservatismus entstehen lässt. Wenn die öffentliche Entsagung der Zufriedenheit zur Normalität wird, der Mensch sich aber nur schwerlich seiner Körperlichkeit entziehen kann, dann wird der verbleibende private Raum genutzt, um dort endlich Zufriedenheit walten zu lassen. Da die Welt sich da draussen so schnell dreht, soll zumindest das Private nicht ein Karussell sein. Wunden lecken ist angesagt. Unspektakuläre Normalität der Wunsch. Energie für neue Lebensentwürfe, aufwendiges Suchen, was einem am Bestem entspricht, dafür ist gar keine Energie mehr da, schon gar nicht mehr, neue Organisationen zu bilden. Wie gut, dass das familiäre und kollektive Gedächtnis der Gesellschaft alte, archaische, konservative Formen des Zusammenlebens bereithält, denen man sich bedienen kann: Leben an einem Ort, ein Haus, eine Frau (oder ein Mann) und Kinder, traditionelle Rollenaufteilungen, die Trennung von Geschäftlichem und Privatem. Jetzt beginnt sich jene Zufriedenheit einzustellen, die tatsächlich gefährlich ist, da sie eine Müdigkeit ist und dem Körper jene Gemütlichkeit vorgaukelt, die lediglich das Ergebnis der Erschöpfung ist. Jetzt schlägt jene Falle (erneut) zu, die sich im ökonomisch-Organisatorischen ausgebreitet hat: das Frühwarnsystem einer Unzufriedenheit versagt im Privaten, da es dort als Zufriedenheit gefühlt wird, obwohl es die Erschöpfung ist, die einem nur mehr eindimensionale Lebensformen leben lässt. Eine Entfremdung von sich findet also nun in der Intimität des Privaten statt und fühlt sich dennoch geborgen an. Im Gegensatz dazu werden die Zufriedenheitsgefühle in der Arbeitswelt fälschlicherweise als Anzeichen gefährlicher Trägheit gedeutet. Verkehrte Welten, fatale Welten! Es gibt genug Gründe, mit dem gegenwärtigen Weltzustand unzufrieden zu sein. Zufrieden darf nur sein, wer das erkannt hat.
*bewirtschaftet von frank.dievernich@hslu.ch,
Hochschule Luzern – Wirtschaft.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014