Von Gabriela Wild — Das Publikum sass vor einer fünf Meter hohen Sperrholzwand, die beim Intro von «Misery’s the river of the world» herunterklappte und Einblick in die Spielzeugkiste bot. Darin reihten sich die Spielfiguren marschierend auf und sangen das erste Tom-Waits-Stück ergreifend schaurig. Die Schweizer Premiere von Tom Waits «Woyzeck» in den Vidmarhallen Bern packte die Zuschauer vom ersten Augenblick an und liess sie unerbittlich bis zum letzten Schlussbild nicht mehr los. Da marschierten die Spielfiguren wieder und sangen «Misery’s the river of the world», an Woyzecks Stelle allerdings sein sechsjähriger Sohn – der teuflische Kreislauf dreht und dreht sich immer weiter. Auch die Luzerner Aufführung, eine Woche später im Stadttheater Luzern, versprach mit der ersten Szene eine interessante Umsetzung des Stücks zu werden, dessen Aufführungsrechte für den allgemeinen Markt Tom Waits erst kürzlich freigab. «Misery’s the river of the world» wurde von dem Ausrufer (Daniela Britt) als Figur des Jokers brillant interpretiert. Die Spannung liess aber sehr schnell nach, spätestens mit dem Auftritt des kraftlos und scheu wirkenden Woyzeck, gespielt von Hans-Caspar Gattiker, der sich während der ganzen Aufführung nicht im Klaren darüber schien, wie er Woyzeck spielen sollte. So verfällt Woyzeck mal in läppisches Lachen, das auf eine geistig verwirrte Person hinweist, versucht es mit zornigen Fausthieben in seinem Eifersuchtsanfall, die ihn bald wieder ermatten. Schliesslich bringt er Marie auch ohne grossen Kraftaufwand um, drückt ihr die Hand auf den roten Mund, sie zuckt nicht, kreischt nicht, fällt leblos in seinen Schoss. Woyzeck will sich noch das Blut von den Kleidern waschen (welches Blut?) und fällt klang- und sanglos irgendwo in ein Gewässer. Einzig, was jetzt das Stück noch retten könnte, wäre der Joker, der zum Abschluss noch einmal sein dreckiges «Misery’s the river of the world» singen würde. Stattdessen schleichen die Schauspieler, schattenhafte Gestalten, müde zum letzten Song auf die Bühne. Die Berner Aufführung entlässt seine Zuschauer mit aufgestellten Nackenhaaren — die bedrückende Aktualität des beinahe zweihundertjährigen Stückes spürend –, nach dem Luzerner Theaterbesuch bleibt ein flaues Gefühl zurück – was will uns diese Inszenierung eigentlich vermitteln? Um ein bisschen zu verstehen, warum die Berner Version funktioniert und was in Luzern fehlt, braucht man nur einen Blick in die Programmhefte zu werfen. Der Regisseur Matthias Kaschig hat eine klare Vorstellung von seinem Woyzeck. Woyzeck ist nicht einfach der Idiot, der sich von allen zum Narren machen lässt. Als Vertreter des Prekariats fehlen ihm die intellektuellen Mittel, das gesellschaftliche System zu durchdringen, er hat nur eine Ahnung von einem «Aussen», das freimaurerische Denken verängstigt ihn. «Dass man ein System erfüllen will, weil man kein anderes denken kann, und dann wie in einem Hamsterrad dem hinterher läuft und darüber längst seine Autonomie verloren hat, das ist modern. Und dass man an einer überkommenen Struktur festhält, weil der Gedanke an etwas anderes einen schon zerstören würde, auch», sagt Kaschig. Woyzeck (Diego Valsecchi) ist ein ständig Getriebener, noch wenn er stramm vor seinem Hauptmann steht, glaubt man, er renne schon weiter. Und rennt er tatsächlich, bleibt er an Ort und Stelle, im Hamsterrad gefangen. Im Luzerner Programmheft gibt es viele Zitate, die auf die reiche Rezeptionsgeschichte von Büchners fragmentarischem «Woyzeck» hinweisen. Zudem wird die Entstehung von Tom Waits «Woyzeck» kurz umrissen, was durchaus aufschlussreich ist, aber was ist mit dem «Woyzeck» des Regisseurs Andreas Herrmann? Dazu schweigt das Heftchen bezeichnenderweise. Zweifelsohne ist die Musik ein tragendes Element und wird beiden Schauspielhäusern Erfolg einbringen, denn wer, zwischen 30 und 50, kennt nicht Tom Waits? Den meisten wird auch «Blood Money» bekannt sein, das im Jahre 2002 veröffentlichte Album mit den für das Schauspielmusical komponierten Songs. Unter der musikalischen Leitung von Michael Frei versuchen die Schauspieler in Bern erst gar nicht, Tom Waits zu imitieren. Die Stimme des Sängers und seine expressiven Bewegungen sind sowieso nicht nachzuahmen. Dafür ziehen die Musiker ein breites Stilregister und spielen die Stücke mal dreckig rockig, dann schräg jazzig, mal im feinen Blues oder gar im Varietéstil einer Marlene Dietrich. So bringen sie die Vielschichtigkeit der Musik von Tom Waits zum Ausdruck. Dagegen klingen in Luzern die meisten Stücke etwas gleich, nämlich nach einer schepernden Zirkusblaskapelle. Nach der Pause gipfelt der Song «It’s just the way we are» von Andres (Jörg Dathe) im totalen Klamauk. Die Musiker steigen aus dem Musikgraben, schunkeln eine Runde mit, ehe sie der Bierpackung von Andres hinter die Bühne folgen. Gelungen ist in beiden Inszenierungen das Bühnenbild. Michael Böhler (Bern) beschränkt sich auf eine simple Kiste, in der alle Schauspieler immer anwesend sind. Max Wehberg (Luzern) hat einen drehbaren Turm aus übereinandergestapelten Kontainern entworfen, auf dem die Schauspieler herumklettern. Die vielseitigen Beleuchtungsmöglichkeiten des Turmes von Innen wie von Aussen erzeugen fantastische Bilder.
Bild: «Woyzeck» vom Theater Luzern / Foto: Tanja Dorendorf
ensuite, Oktober 2009