Von Hannes Liechti (München) und Pablo Sulzer (Bern) — Vorurteile. Ein schnelles Urteil, bevor man überhaupt dazu fähig sein sollte, es zu fällen. Natürlich, es gibt die ganz grossen, allgemein bekannten Vorurteile, zugleich aber ebenso versteckte, über die gemunkelt wird. Stadtvorurteile. Ein verfrühter Standpunkt über eine ganze Stadt samt Bevölkerung, Kultur und Gewohnheiten. Meist – so ist man geneigt zu denken – können solche doch gar nicht stimmen. Aber Vorsicht, nicht zu früh urteilen.
BernerInnen sind langsam. Das mit Abstand beliebteste Vorurteil über den Hauptstadtschweizer. «Ah, dir sit so laangsaam, redet laangsaam, überhaupt ganz Laangsami!» Haha. Nimmt man es mit Humor – was zugegebenermassen schwerfallen kann – sollte man froh sein, ein solch harmloses Vorurteil zu haben. Da haben doch andere Städte oft mit viel böseren Vorurteilen zu kämpfen. Stellt man sich Vorurteile vor wie «Diese Stadt ist asozial» oder etwa «Alle Frauen dieser Stadt sind verrucht», so lässt sich unsere Langsamkeit sogar gut und in aller Gemütlichkeit geniessen. Das Attribut «Langsam sein» liegt bekanntlich nicht weit entfernt vom Titel «Lebensgeniesser».
Doch was hat es mit weiteren Vorurteilen so auf sich? Gibt es noch welche? Eine Trendmode-Bloggerin aus Zürich hat vor nicht langer Zeit über die Stilunsicherheit moniert. Berner-Innen wären – im Gegensatz zu Zürich — bezüglich Mode sehr reserviert und würden sich wenig bis gar nichts getrauen. Kurz: BernerInnen haben kein ausgeprägtes Modebewusstsein. Ein Vorurteil?
Ausgang-mässig bietet sich in Bern nur wenig an. Auch solche Schnellschüsse hört man immer wieder. Naheliegend vielleicht darum, da die ganz grossen Namen des globalen Musikzirkus‘ meist in Zürich gastieren. Basel übernimmt häufig gern den Art-Part – inklusive Bratt-Pitt-Besuch an der Art-Basel-Ausstellung. Genf gebührt der Ruhm einer Weltstadt mit bedeutenden globalen Organisationen (UNO, Rotes Kreuz, CERN, WHO). Und Bern?
Bern ist langweilig, konservativ und keine Metropole, nur eine «Hauptstadtregion». Alles viel zu kompliziert und Fremdes zunächst einmal sehr suspekt. Einiges mag stimmen, anderes sicher nicht. Ein Vorurteil fehlt aber, noch dazu ein positives: «Berner nehmed alles immer so easy!» Vorurteile mögen zwar oft nicht der Realität entsprechen, doch ein Quäntchen Wahrheit ist allemal dran.
Die Münchner sind grantig, arrogant, reich und können nur Bier trinken. Schickimicki ist angesagt, die Münchner verzichten auf Subkultur und sind konservativ und rückständig: Sie rennen in Lederhose und Dirndl herum, gehen jeden Tag auf die Wiesn und lieben Blasmusik. Die Münchner essen nur Weisswürste mit Weissbier und ihr Deutsch versteht eh keiner. Und seit vergangenem Sommer ist das U‑Bahn-Fahren in München ebenso gefährlich wie in São Paulo oder Johannesburg.
Die Liste liesse sich wohl noch fortsetzen. Kaum eine andere deutsche Stadt polarisiert dermassen wie die bayrische Landeshauptstadt. Das kommt nicht von ungefähr: Die Bayern besitzen einen unerschütterlichen Nationalstolz. Bayern ist Freistaat und nicht Bundesland, und jeder, der aus Rest-Deutschland kommt, ist ein «Preuss». Nicht weiter erstaunlich also, dass die Bayern viele Vorurteile auf sich ziehen.
München ist die reichste Stadt Deutschlands. In Wirtschaftsrankings belegt die Stadt regelmässig den ersten Platz. Die Kaufingerstrasse am Marienplatz ist nach der Zürcher Bahnhofsstrasse die teuerste Einkaufsmeile im deutschsprachigen Raum. Demnach überrascht es nicht, dass in München Schickimicki grossgeschrieben wird und es weder an Edelrestaurants noch an teuren Geschäften mangelt. Wenn Türsteher von Zweitklasse-Nachtclubs knallhart selektionieren, ist man rasch versucht, die Münchner als arrogant abzustempeln. Dabei darf aber die Subkultur nicht vergessen werden, obwohl diese im Direktvergleich mit Berlin, Köln oder Hamburg weitaus den Kürzeren zieht.
Der Münchner ist grantig, konservativ und rückständig. Mag sein, dass dieses Bild auf einen Oberbayer aus dem hintersten Alpental zutrifft, nicht aber auf einen Münchner. Der Grossstädter ist weltoffen und modern, lässt aber hin und wieder etwas Freundlichkeit und Herzhaftigkeit vermissen. Dass Bayern gerne als «Italien Deutschlands» und München als «nördlichste Stadt Italiens» bezeichnet wird, hat seine Berechtigung. Eher aber in Bezug auf die Gemütlichkeit denn auf das Temperament.
Bleiben das Bier und die Lederhosen. Während Blasmusik meist nur für Touristen gespielt wird, Weisswürste und Weissbier längst nicht überall erhältlich sind, die U‑Bahn eine der sichersten und saubersten in ganz Europa ist und sich das Bayrisch wie ein besserer Schweizer Dialekt anhört, wird in Sachen Bierkonsum eher unter- als übertrieben. Sei es morgens zum Frühschoppen, mittags zum Essen, nachmittags im Biergarten und abends in der Kneipe: Die Münchner trinken immer Bier. Und wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, werden auch Dirndl und Lederhosen angezogen. Kein Wunder, führt sogar C&A Dirndl im Sortiment.
Foto: Jonathan Liechti
ensuite, November 2009