Von Klaus Bonanomi - Die rhetorische Frage zu stellen heisst sie zu beantworten: Nichts natürlich. Jedenfalls sieht es so der Trendguru Tyler Brûlé. „Was hat Bern mit Lebensqualität zu tun?“ fragte Brûlé unlängst in seiner Kolumne in der Sonntags-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung aus Anlass einer Umfrage über die Lebensqualität in verschiedenen Städten der Welt. Dass Städte wie Bern und Genf bei dieser Umfrage unter den besten zehn landeten, hat laut Brûlés Wort zum Sonntag damit zu tun, „dass die Leute, die diese Liste aufstellen, höchstwahrscheinlich um halb sieben zu Abend essen, um neun ins Bett gehen, einen Volvo-Diesel fahren, mit einem ausgesprochen grauenhaften Haarschnitt herumlaufen und in ebenso geschmacklosen Schuhen herumlaufen. Ach ja, und natürlich nie Sex haben.“
Kein Wort an dieser Stelle gegen die NZZ schliesslich ist sie es, die sich in Bern für die Pressevielfalt einsetzt und als „Bund“-Besitzerin die jährlichen Defizite der Zeitung begleicht (allein acht Millionen Franken im letzten Jahr). Dafür erlaube ich mir an dieser Stelle ein Wort gegen den NZZ-Kolumnisten Tyler Brûlé, der wie sein Text nahelegt höchstwahrscheinlich seit zwanzig Jahren nie mehr einen Fuss in unsere Stadt gesetzt hat. Wer wie der coole Kanadier und Wahlzürcher Brûlé nur in Weltklasse-Hubs wie Zürich-Kloten umzusteigen pflegt, ist natürlich für die Out-of-Africa-Romantik der Belpmoos-Empfangsbaracken nicht empfänglich; wer in den schicksten Hotels dieser Erde ein und aus geht, dem ist ein Schweizerhof zu rustikal, und wer bei Phillip Johnsons „Four Seasons“ in New York zu tafeln beliebt, dem ist wohl ein „Wein und Sein“ halt zu wenig fashionable.
Für alle andern aber gilt: In Sachen Lebensqualität kann es Bern mit vielen Grossstädten aufnehmen. Natürlich hocken in unseren Sandsteinmauern noch zähe zähringische Überreste, schleichen unfrohe Überbleibsel des Ancien Régime durch unsere Gassen, und man kann durchaus Menschen in sehr geschmacklosen Schuhen begegnen: Aber auch Bally, eine von Tyler Brûlés Lieblingsmarken, ist in Bern an bester Lage vertreten. Natürlich kann man in Bern ausgesprochen grauenhafte Haarschnitte kriegen, man kann aber auch zum „Frisör“ gehen. Und vor allem kann man in Bern eine Lebensqualität geniessen, die sich nicht an möglichst exklusiven Etiketten und teuren Preisschildern misst.
Bern ist klein, aber pro Quadratmeter gibt’s in kaum einer anderen Stadt mehr Kultur-Tatorte als in Bern. Wo anders als im Marian’s Jazzclub in der Inneren Enge kann man an der Bar mit Paquito d’Rivera höchstpersönlich plaudern, wo anders als in Don Lis Tonus-Labor den atemberaubenden Tanz von Ania Losinger auf ihrem Xala-Xylophon hautnah mitverfolgen? Von der Galerie im Altstadt-Keller bis zum neuen Stage-Container, vom ReitschulKino bis zum Lichtspiel bietet Bern so einiges für neugierige Leute, die sich lieber auf ihre eigene Spürnase verlassen, anstatt irgend einem ach-so-coolen Trendsetter nachzuplappern.
Das einzige, was wirklich fehlt, ist das Meer den freien Blick aufs Mittelmeer gibt’s in Bern noch immer nicht, die Bewegung zur Abschaffung der Alpen ist gescheitert. Dafür haben wir den Nachtzug nach Barcelona, und der fährt aus dem neuerdings gar nicht mehr so hässlichen Bahnhof, der nun frisch umgebaut mit neuer Glasfassade, dem Tibits-Strassencafé und dem Restaurant Côté Sud doch immerhin ein bisschen Heiterkeit und mediterranen Charme versprüht, wie auch die NZZ kürzlich zu loben wusste (auch wenn dieser Text „nur“ vom Berner Korrespondenten der Zeitung stammte und nicht von Edelfeder Brûlé). Jetzt nur noch den Autoverkehr am Bubenbergund Bahnhofplatz etwas eindämmen, etwas weniger Volvo-Diesel dann könnte Bern sogar einem Tyler Brûlé gefallen!
Aus der Serie Von Menschen und Medien
ensuite, Mai 2003