Bedeckte Nachktheit

Von Simone Weber — Wenn der Som­mer seinen Sarkas­mus für ein paar Tage im Zaum hält, reisst sich die Men­schheit die Klei­dung vom Leib und lässt sich von der Sonne brat­en. Und da wir Nor­mal­sterblichen keine Nud­is­ten sind, die sämtliche Kör­perteile auf dem Sil­bertablett präsen­tieren, bedeck­en wir beson­ders heik­le Stellen gerne mit ein paar Zen­time­tern Stoff. Wir Frauen haben die Qual der Wahl zwis­chen einem sim­plen und meist öden Badek­leid, dem beliebten Biki­ni, dem Monoki­ni, der sich durch eine extrav­a­gante Verbindun­gen von Bikini­top und Bikini­hose ausze­ich­net und dem Tank­i­ni, der aus einem Höschen und einem ärmel­losen, den Bauch bedeck­enden Oberteil beste­ht.

Wir konzen­tri­eren uns an dieser Stelle auf das beliebteste Mod­ell – den Biki­ni. Seinen Namen ver­dankt er nicht etwa der Tat­sache, dass er aus zwei Teilen beste­ht. Louis Réard, der im Jahre 1946 die Stripteasetänz­erin Miche­line Bernar­di­ni bek­lei­det mit vier kleinen Stoff­dreieck­en über den Lauf­steg in Paris schick­te, benan­nte seine Erfind­ung nach einem winzi­gen Paz­i­fik-Atoll. Die Insel war zu dieser Zeit ein nuk­lear­es Atom­test­ge­bi­et der Amerikan­er. Und wie eine Bombe schlug auch Réards Zweit­eil­er ein.

So viel nack­te Haut ertru­gen die empfind­lichen Augen der 40er-Gen­er­a­tion nicht. Das Volk war entrüstet, der Biki­ni ein Skan­dal, weil unmoralisch und anstös­sig. Das Resul­tat war ein fast weltweites Bade­ver­bot für den knap­pen Biki­ni. In den 50ern quetscht­en sich die Frauen dann auch lieber in fig­ur­mod­el­lierende Badeanzüge. Ver­steck­te Kor­sagen und Push-ups soll­ten aus weib­lichen Kör­pern San­duhren for­men. Und weil der Biki­ni als Mogel­pack­ung nichts taugte, fand er in den Klei­der­schränken keinen Platz.

Gegen Ende der 50er-Jahre aber schaffte es der sexy Zweit­eil­er in die erste Klasse der Bade­garder­obe. Stars wie Mar­i­lyn Mon­roe und Brigitte Bar­dot ver­halfen ihm zum Durch­bruch. Und 1962 fiel der Män­ner­welt beim Anblick von Biki­ni-Gra­zie Ursu­la Andress im James Bond­film «Dr. No» dann der Kiefer auf die Schul­tern. Die Beliebtheit des Biki­nis stieg ras­ant. Nur noch brave Mäd­chen tru­gen einen Badeanzug. Mit der rev­o­lu­tionären Sexwelle der Sechziger­jahre wurde Réards skan­dalöse Erfind­ung zur Nor­mal­ität.

Heute ist der Biki­ni die beliebteste Badek­lei­dung der Frauen­welt, und die Mis­chung aus ange­zo­gen und nackt ist auch dieser Tage noch span­nend genug. Doch der Biki­ni ist eben­so ein gefährlich­es Ding. Beim weib­lichen Geschlecht kann er selb­st an heit­er­sten Som­merta­gen tiefe Depres­sio­nen aus­lösen. Bei dem riesi­gen Ange­bot an Tri­an­gel, Ban­deau oder Bügel weiss selb­st ein entschlossen­er Men­sch nicht mehr, was er will, geschweige denn was ihm ste­ht! Wer die Wahl hat, hat die Qual! Selb­st weib­liche Exem­plare mit «unprob­lema­tis­ch­er Fig­ur» stossen beim Bikinikauf auf unüber­brück­bare Dif­feren­zen. Da passt’s entwed­er oben nicht oder unten nicht oder ist sog­ar rund­herum eine Katas­tro­phe. Nach zwei Stun­den Durch-die-Läden-Ren­nerei und gefühlten tausend Biki­nis kann unsere­ins da mal kurz die Lust verge­hen. Ein biss­chen medi­tieren müssen wir schon, damit wir Nor­mal­sterblichen, Unoperierten, den Biki­ni geniessen kön­nen.

Ist endlich ein passendes Mod­ell gefun­den, kann der Badespass los­ge­hen. Wer dachte, mit den Prob­le­men sei es nun vor­bei, liegt falsch. Der trock­ene Biki­ni aus der Umk­lei­dek­abine ist nicht zu ver­gle­ichen mit dem­sel­ben Mod­ell im Badeein­satz. Ein ele­gan­ter weiss­er Tri­an­gel­biki­ni, der auf gebräunter Haut ja sooo hüb­sch aussieht, wird in nassem Zus­tand jed­er Trägerin die Schames­röte in den Schädel treiben. Man kön­nte als Alter­na­tive auch gar nichts tra­gen. Spas­sige Sprünge ins küh­le Nass soll­ten Bikinilieb­haberin­nen eben­so unter­lassen. Wenn das Oberteil beson­ders bequem sitzt, wer­den solche Freuden pein­lich enden. Beim Durch­stossen der Wasser­ober­fläche wird es sich näm­lich kurz­er­hand von der Stelle ver­ab­schieden, wo es eigentlich sitzen sollte und als extrav­a­gan­ter Halss­chmuck enden. Der blosse Gedanken an die belustigten Zuschauer vertreibt die Lust an wilden Bade­freuden. Aber nicht nur das Oben­rum, auch die ver­meintlich harm­lose Bikini­hose kann Stre­iche spie­len. Lieb­haberin­nen des Flusss­chwim­mens wer­den wis­sen, wovon ich spreche. Drückt das Höschen uns nicht den ganzen Blut­strom ab, sollte es beim aus dem Wass­er steigen irgend­wie fest­ge­hal­ten wer­den.

Der Biki­ni hat’s in sich. Dies wusste schon sein männlich­er Erfind­er. Er sagte einst über ihn: «Er ist so klein, dass er alles über die Trägerin enthüllt, bis auf den Mäd­chen­na­men ihrer Mut­ter.» Ein biss­chen zu wörtlich genom­men hat dies der scham­lose Entwick­ler des neusten Bikin­i­mod­ells. Ergeb­nis sein­er abar­ti­gen Gedanken ist ein «Rache-Biki­ni», der sich im Wass­er in seine Einzel­teile auflöst. Nähte gibt es an diesem Klei­dungsstück nach spätestens drei Minuten im Wass­er keine mehr, übrig bleiben lediglich ein paar kleine Fet­zen Stoff. Vor­sicht ist geboten, denn schlim­mer geht’s immer!

ensuite, Sep­tem­ber 2009

Artikel online veröffentlicht: 5. September 2018