Von Peter J. Betts — Zum Schreien komisch ist es, frivol und abgrundtief traurig, wahnsinnig und schrecklich logisch, banal und vielschichtig, zynisch und tragisch, hoffnungslos und voller Leben in all seiner Sinnlosigkeit und schlicht grossartig, dachte ich zwei bis drei Jahre nach dem Erscheinen des Buchs bei der ersten Lektüre. Und in höchstem Mass aktuell, dachte ich bei meiner letzten Lektüre vor ein paar Tagen. Leider. «CATCH-22» erschien erstmals 1961. Der Autor, Joseph Heller, wurde 1923 in Brooklyn geboren. Im zweiten Weltkrieg «diente» er in der US-Airforce als Bombardier. Nach dem Krieg studierte er unter anderem in Oxford, lehrte während einiger Jahre, startete dann eine erfolgversprechende Laufbahn als Werber für renommierte Zeitschriften wie «Time» und «Look», dabei kam ihm die Idee für «CATCH-22». Durch Erfahrung wird man – klug? Acht Jahre schrieb er an diesem Werk. Ich hatte es wieder in die Hand genommen, weil ich unbeschwert lachen wollte – ja nichts Depressives! Er hat auch viele andere, in doppeltem Sinne ausgezeichnete Bücher verfasst, aber wer «CATCH-22» sagt, stellt automatisch die Gleichung auf: Heller = «CATCH-22», so wie man bei Goethe an «Faust» denkt und nicht an »Die Leiden des jungen Werther», aber dabei auch nicht an Christopher Marlowe. Kultur der Politik pur: Eine kleine (bezüglich der Handlung fiktive) Insel, etwa dreizehn Kilometer südlich von Sardinien, zur Zeit der Eroberung Italiens durch die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg, ist Ausgangspunkt all dieser schrecklichen und – lustigen Geschichten. Von dort aus werden die Bombereinsätze geflogen – von inkompetenten Verrückten, gewissenlosen Ehrgeizlingen, Idioten in Machtpositionen geplant und befohlen. So wird etwa das Soll der Einsätze für die Crews von den üblichen fünfzig auf sechzig, dann siebzig, dann achtzig erhöht, nur damit der verantwortliche Oberst den von der Journaille fabrizierten Ruf als Führer des einsatzfreudigsten Geschwaders erhält und vorzeitig zum General befördert wird, ohne selbst je eine Flak-Kanone gesehen zu haben. Die Flugcrews, an die äussersten Grenzen und darüber hinaus getrieben, drehen durch, sterben vor sich hin. Was immer geschieht, was immer schief geht, wer immer sinnlos krepiert: Irgendjemand, immer von der gleichen Clique, verdient Unsummen Geldes und erfährt rigorosen Machtzuwachs. Ein gewiefter Händler zum Beispiel wird von der offiziellen Funktion als Bomberpilot durch Mitinteressenten von diesen Verpflichtungen befreit und zum Messeoffizier befördert. Dank seines geschäftsbedingten Ranges und vieler Ehrentitel baut er sich und seinen Kumpeln ein Handlungsnetz für Güter auf von Ägypten bis Spanien, Moskau, Stockholm, Berlin, Wien, Budapest: Überall wird irgend eine Überproduktion von etwas, das anderswo als gesuchteste Mangelware verkauft werden kann, ausgenutzt, unter selbstverständlichem Einbezug auch der feindlichen Luftwaffe. Seine unangefochtene Macht wächst ungebremst: Gewinn kennt keine Grenzen. Gibt es scheinbar einen unausweichlichen Flop, wandelt der Schieber diesen für sich in einen Grosserfolg um: Eine Riesenmenge ägyptischer Bauwolle, für die er keinen Absatz findet, wird Blüte für Blüte mit Schokolade überzogen und erzielt als Leckerbissen einen Riesengewinn – mit Folgegewinnen der nach Genuss nötigen Medikamente wegen. Bombardemente von Dörfern, Brücken, Flugplätzen usw. werden unter Einbezug eingeweihter feindlicher Kräfte in Szene gesetzt, auch die Flugabwehr wird zentral organisiert im Interesse aller Shareholder hüben und drüben. Nur gestorben wird real: Crews, Zivilisten, Kinder, Huren, Pöbel gehen grenzenlos drauf. Der Ton unter den Verantwortlichen bleibt freundlich, alle sprechen von Pflicht, Ehre, Treue, Vaterland. Den anderen gehen die Worte aus. Die Luft auch. In den 60er-Jahren war «CATCH-22» eines der bildenden Elemente der «68er». Mitschuldig vielleicht für das damals übliche Misstrauen den Institutionen und vorgepredigten Idealen, Würde- und Machttragenden gegenüber. Nun, 68er sind älter geworden, sind Minister oder gehören Économie Suisse an. Gewinn heiligt die Mittel: Voraussetzung zur Reife. Steueroasen. Offshore-Banking. Abermilliarden von, sagen wir Franken, die Schwellen- oder Entwicklungsländern entzogen worden sind, mehren sich steuerfrei, hier zum Beispiel, und den Herkunftsländern fehlen die – an sich vorhandenen – Gelder für effiziente Armutsbekämpfung. Natürlich wehren wir uns hier dagegen, diese Systeme zu ändern – auch unsere Wirtschaft würde ja tangiert, wir alle verdienten vielleicht ein bis zwei Prozent weniger Geld. Wo kämen wir, in einem der reichsten Länder der Welt, da hin? Wie lange haben deutsche Spitzenpolitiker ihrem Volk eingeredet, ihre Landsleute in Afghanistan seien alles andere als im Krieg? Wurde nicht kürzlich mit Akribie ein Feuerüberfall auf Busse voller Terroristen geplant und ausgeführt, was angesichts der Leichen von Frauen und Kindern einigen Erklärungsbedarf erforderte? Bruttosozialprodukt oder Bruttoinlandprodukt, auch wenn es sich um Durchschnittswerte ohne reale Aussagekraft handelt, werden als unumstössliche Gradmesser für das individuelle Glück der gesamten Bevölkerung verkauft. Die in aller Unschuld, mit grösster Selbstverständlichkeit erhobene Forderung, Unterhaltskosten von vielen, vielen Millionen im Jahr für das Schienennetz durch die öffentliche Hand – oder die Reisenden – im Nachhinein zusätzlich bezahlen zu lassen, auch wenn alle davon ausgegangen waren, die Kosten seien in den präsentierten Budgets enthalten. Leistungsabbau mit Kostensteigerung im Service au public. Unbegrenzter Glaube an unbegrenzbare Gewinnsteigerung in allen Bereichen. Verquickung von Mafia, Profischieberei und Politprominenz im Normmenu der Tagesnachrichten. Prunk, Protz, Elend nebeneinander auf engstem Raum – global und lokal. «Catch-22», aktualisiert. Eine kleine Textprobe aus «CATCH-22»? Yossarian, der Protagonist, soll kurz vor Schluss des Buches vom Guten als Motivation aller überzeugt werden: «… ‚Die Ideale sind gut, aber die Menschen sind manchmal nicht ganz so gut. Du darfst sie nie deine Werte ändern lassen. Du musst versuchen, zum grossen Bild hinaufzuschauen.’ ‚Wenn ich hinaufschaue, sehe ich Leute, die ihre Taschen füllen. Ich sehe nicht Himmel oder Heilige oder Engel. Ich sehe Leute, die sich an jedem anständigen Impuls, an jeder Tragödie immer und immer wieder bereichern.’ …» Viel naiver kann man das doch fast nicht sagen. Oder, nachdem sich der gute Kamerad von der Fruchtlosigkeit der Güte doch noch hat überzeugen lassen: «… ‚Ich denke, es wäre schön, wie ein Gemüse zu leben und keine wichtigen Entscheidungen treffen zu müssen.’ Yossarian: ‚Was für eine Art von Gemüse, Danby?’ ‚Eine Gurke oder eine Karotte.’ ‚Was für eine Gurke, eine gute oder eine schlechte?’ ‚Eine gute natürlich.’ ‚Sie schneiden dich ab und machen Salat draus.’ ‚Halt eine schlechte.’ ‚Sie lassen dich verfaulen, verwenden dich dann als Dünger, damit die guten wachsen.’ ‚Vielleicht möchte ich doch nicht wie ein Gemüse leben’, sagte Major Danby mit einem resignierten, traurigen, Lächeln. …» Zum Schreien komisch ist es, frivol und abgrundtief traurig, wahnsinnig und schrecklich logisch, banal und vielschichtig, zynisch und tragisch, hoffnungslos und voller Leben in all seiner Sinnlosigkeit und schlicht grossartig, dachte ich zwei bis drei Jahre nach dem Erscheinen des Buchs bei der ersten Lektüre. Und in höchstem Mass aktuell, dachte ich vor ein paar Tagen. Leider. Man blättere in einer Tageszeitung, höre am Radio in die Morgennachtrichten hinein, horche in den Subtext von Bekannten hinein. «Catch-22» ist auch heute Alltag. Oder wie Brecht einmal schrieb: «… Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich, / Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu. …»
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2010