Von Peter J. Betts — Erfreuendes, Erschütterndes, Erdachtes, Erhärtetes, manchmal auch Erhaschtes, Erkämpftes, Erspartes und Erkaltetes sind unter anderem Ingredienzen des DRS 2‑Ersatzes: «Radio SRF 2 Kultur». Nicht Erlittenes: nach wie vor gibt es den Knopf zum Ausschalten. Seit Mitte Dezember ist die vielversprechend angekündigte, nicht wenig befürchtete Erneuerung ausgebrochen: seit dem 17. Dezember ist das neue Programm auf Sendung. «Während im Vorfeld viel über die Programmänderungen spekuliert wurde, kann man sich jetzt Tag für Tag seine eigene Meinung bilden», heisst es im Januar-Magazin des SRF Kulturclubs. (Als ob man das nicht schon vorher über Jahre hätte tun können und viele mit Befriedigung auch getan haben.) Mir scheint, Wiederholungen von «alten» Sendungen verdichten sich. Keineswegs immer nur kalter Ersatz-Kaffee, sondern oft echter, inhaltlicher Gewinn, da – zumindest mir – vieles erst beim zweiten Mal Lesen (oder in diesem Falle: Hören) so tief ins Verständnis eindringt, dass ich selber aktiv weiterdenke. Ein kleines Beispiel: die heutige Kontext-Sendung «Schicksal der Missionskinder untersucht». Am 10. Juni 2012 wurde diese Sendung von Maya Brändli erstmals ausgestrahlt. Sie stützt sich auf eine Arbeit der Kulturwissenschaftlerin Dagmar Konrad, die im Rahmen eines Nationalfonds-Projektes das Schicksal ehemaliger «Missionskinder der Basler-Mission» (die Jüngsten von ihnen sind heute über siebzig Jahre alt) aufgezeichnet hat. Obwohl es in der Sendung, natürlich schon im Juni, expressis verbis gesagt worden war, ist mir erst heute «wie Schuppen von den Augen gefallen», dass diese Schweizerkinder schweizerischer Missionare, von den Eltern getrennt und in der Schweiz aufgezogen, als Menschen mit Migrationshintergrund betrachtet werden müssen. Ein Beispiel: das kleine Mädchen, in Afrika geboren, kann in der Schweiz nichts anfangen mit seiner «Eingeborenensprache», nichts mit der ihm aus dem Umgang mit den «Eingeborenen» vertraut gewordenen Kultur – es ist völlig entwurzelt: ein Mensch mit Migrationshintergrund. Die Eingeborenen-Sprache verlernt es, die Eingeborenenkultur geht verloren. Es wird zur professionellen Fremden. Trotz regelmässig verordneten (und sorgfältig durch die Erziehenden überprüften) Briefen an die «Eltern» weiss es zunehmend weniger von den Eltern, und wenn es ihnen – Jahre später – in der Schweiz begegnet, sind diese Fremde. Seit seinem Abtransport aus Afrika in die Schweiz kann sein Leben mit «Anpassungsversuchen» charakterisiert werden. Nun, mit über siebzig Jahren, ist die Dauer des Leidens absehbar geworden, und der Sachverhalt betrifft ja nur verhältnismässig Wenige… Und doch ist Maya Brändlis Sendung für uns alle aktuell und demzufolge relevant. Obwohl die Schweiz seit Jahrhunderten nicht nur ein Auswanderungs- sondern auch ein Einwanderungsland ist, wird heute wieder besonders heftig die Migrationspolitik diskutiert und parteipolitisch ausgeschlachtet. Ein paar Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg ist das Boot wider voll. Maya Brändlis Sendung ist also ein höchst aktueller Beitrag zur Thematik von Gewinnstreben und Schuld. Oder die «HörPunktsendung» vom 2.Januar: «Fleisch und Blut – Das Leben des Metzgers Hans Meister»: ergreifend, erschütternd, erkenntnisstiftend. Das Hörbuch zum Text von Susanna Schwager, gelesen von Dieter Stoll, wird von neun bis zweiundzwanzig Uhr abschnittweise präsentiert, durchsetzt von illustrativer, vorwiegend schweizerischer Musik, jeweils passend zur Zeit, die gerade im vorgelesenen Text präsentiert wird. Das Musikarchiv wird von 1913 bis in die Neunzigerjahre sinn- und nutzbringend genutzt (eine Stadtzürcher Blasmusik zur Zeit des ersten Weltkrieges; aus den Fünfzigerjahren, zur Blütezeit der Radio-Unterhaltungsorchester, ein illustratives Potpourri von Radio Beromünster usw.) Eine grossartige Lesung eines grossartigen Textes. Der HörPunkt Anfang 2013 liefert hautnah und in jeder Beziehung höchst realistisch exemplarische Einblicke in die letzten hundert Jahre mit verschiedenen und sich zeitbedingt auch verändernden Werthaltungen. Alle Zuhörenden werden unausweichlich in Wirklichkeiten, die sie nie erlebt oder kaum reflektiert haben, hineingezaubert. Identifikation unausweichlich. Und subkutan begreift man auch die Gegenwart und darin viele Zusammenhänge besser, findet – vielleicht – Motivation, in sich selber nach Wegen zu suchen, an noch mögliche Auswege zu glauben und entsprechende Verhaltensweisen zu mobilisieren. Oder irgend einmal zwischen sechs und sieben Uhr, mitten zwischen den Musikfragmenten plötzlich: «nemet frowe disen cranz» das wohl, neben «ich saz ûf eime steine», berühmteste Gedicht von Walther von der Vogelweide, in für meine Ohren authentischem Mittelhochdeutsch gesprochen; ein paar Tage später: ein barockes Gedicht, das innerhalb einiger Minuten die Abgründe, Nöte und Hoffnungen des Dreissigjährigen Krieges greifbar nahebringt. Drei Beispiele, die unter die Haut gehen. Inhalte, die wichtig sind. Ich vermute: in der Produktion kostengünstige Programmbrocken. In allen drei Beispielen wird in bewunderungswürdiger Weise gegen den Zeitgeist agiert. Die Gegenstände sind nicht neu (die Wiederholung einer Sendung, die vor einem halben Jahr neu war; eine Lesung, bei der die Rechte an Sprecher und Autorin wohl über eine Verwertungsgesellschaft abgewickelt werden, kostengünstiger als allenfalls Originalproduktion und dennoch durchaus originär; ein bewusstseinserweiternder Ersatz für die einst aufwändigen «Zeilensprünge»). Eine Kontext-Sendung über Hamburg (auch hier denke ich an ein sehr erfolgreiches Beispiel) setzt aufwändige Recherchen, Original-Tondokumentationen voraus, neben Reise- und Aufenthaltskosten für eine ganze Crew, Abgeltungen für Interviewpartner usw.: Investitionen in ein ungesichertes Endergebnis, ein angemessenes künstlerisches Risiko, würdig eines Kultursenders – aber kaum rentabel. Viele werden diese Sendung mit innerem Gewinn genossen haben. «Viele»: nicht im Sinne der monetären Gewinnoptimierung und des Wachstumswahns als Lebensleitlinie auf dem Weg zu ultimativer Sinngebung. Der eigentliche Wert liegt hier im Ephemeren: die Vergänglichkeit der Blüte macht sie kostbar. Können, müssen die Bedürfnisse einer Minderheit in einem hochsubventionierten Betrieb nicht angemessen und glaubwürdig berücksichtigt werden? Ich habe den Eindruck, dass zum Beispiel die Morgensendungen (keine Mattinata mehr zwischen sechs und neun Uhr) modischer geworden sind. Ein Kulturwarenhaus, wo sich vielleicht ja auch irgendwo Kostbarkeiten finden lassen? Kurze Musiksplitter bereiten auf die kommende Hast des Arbeitstages vor: immer was Neues, «was hinter uns liegt, ist gemäht» oder «Vorrrrwärts Marrrsch!», Musik als verkaufsfördernde Geräuschkulisse? Nach den Nachrichten unmittelbar anschliessend eine Wortsendung, die sich mit der Zeit als «Kontext» erweist. «Nachrichten», inhaltlich fast gleichbleibend, im Zwanzigminutentakt – eine beruhigende Erkenntnis, dass sich auf der Erde so wenig Nennenswertes ereignet? Zugleich habe ich den Eindruck, dass man, sei es meinetwegen aus Spargründen, auch den Sinn dafür weckt, dass Vergangenes kaum je wirklich vergangen und schon gar nicht wertlos ist. Das scheint mir nun wirklich eine kostbare Einsicht. Nicht nur leben wir in einer Welt von Widersprüchen, sondern diese sind auch Teil von uns allen. Erfreuendes, Erschütterndes, Erdachtes, Erhärtetes, manchmal auch Erhaschtes, Erkämpftes, Erspartes und Erkaltetes sind unter anderem wirkungsvolle Ingredienzen von Radio SRF 2? «Man kann sich jetzt Tag für Tag seine eigene Meinung bilden», heisst es. Vielleicht überzeugt mit der Zeit, was wir hören? Oder wir ändern uns entsprechend? Wenn existentiell notwendig, versucht man sich bisweilen anzupassen.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2013