Von Frank E.P. Dievernich - Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene (XXV): Unternehmen sind, was Persönlichkeiten anbetrifft, ausgetrocknete Biotope. Besonders zutreffend ist dies für die Spezies des Managements und der Führungskräfte. Das ist interessant, da doch vor allem dort Personal- und Führungskräfteentwicklungsmassnahmen und ‑programme ablaufen, die einen vermuten lassen, dass dort, zumindest nach einer gewissen Zeit, Persönlichkeiten vorzufinden sind. In Wahrheit stellt sich jedoch das Gegenteil dar. Je umfangreicher das Angebot an solchen Personal- und Führungskräfteentwicklungsmassnahmen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, ein persönlichkeitsarmes soziales Milieu vorzufinden. Das liegt aber natürlich weder an der Absicht, Menschen durch solche Massnahmen unterstützen und entwickeln zu wollen, noch an den Programmen und Inhalten an sich. Viel eher liegt die Gefahr darin, dass das eng gestrickte Netz an solchen Massnahmen uns ablenkt, die Mängel zu sehen, die durch das System Unternehmen erst gerissen werden. In Personal- und Führungsentwicklungsprogrammen mag alles andere entwickelt werden, jedoch nicht Persönlichkeit. Dafür sind die Klingen dieser Programme viel zu stumpf, um nicht zu sagen gewöhnlich.
Gewöhnlichkeit ist dabei ein Grundmerkmal von Organisationen, und es ist Ihnen auch nicht vorzuwerfen, müssen sie doch etwas anbieten, was mit Gewohnheit zu tun hat, wollen sie überleben und wollen wir sie immer wieder aufs Neue als bewährt erkennen können. Organisationen sind Gewöhnungsanstalten, sind Kontingenz reduzierende Strukturen, die vor allem eines wollen, nämlich, dass wir immer wieder auf sie und ihre Produkte zugreifen. Wir Menschen, die in diesen Organisationen arbeiten, sind im wahrsten Sinne des Wortes Bewährungshelfer für diese Organisationen, in denen wir alle unser Scherflein dazu beitragen, dass alles wenn zwar nicht immer 100 prozentig gleich, so dann doch sehr ähnlich abläuft. Dafür werden wir dann entlohnt, während ein paar wenige Andere dafür bezahlt werden, diese Beständigkeit, diese Bewährung zu stören. Dieser Balanceakt fühlt sich an wie das Schaukeln des Meeres, wie die Wellen, die an das Ufer spülen und in gleichmässigem Rhythmus sich wieder zurückziehen. Wäre man in Organisationen nicht beteiligt und würde man sich diese eher unbeteiligt von aussen betrachten, dann wäre das die beste Meditationsübung, die man sich nur vorstellen kann. Jedoch führt innerhalb von Organisationen dieses meditative Schunkeln zu einem sukzessiven Abschmirgeln von allem, was Ecken und Kanten hat. Was bleibt da anderes übrig, als sich der Suggestion hinzugeben, dass durch die Teilnahme an Personal- und Führungskräfteentwicklungsprogrammen ein Rest an Persönlichkeit entwickelt werden, bzw., wenn noch vorhanden, überleben kann. Das aber ist natürlich ein Trugschluss, da Persönlichkeit grundsätzlich im Widerspruch zu Personal steht.
Personal ist eine funktionalisierte Kategorie von Organisationen. Personal ist das funktionale Destillat von all dem, was Persönlichkeit am Menschen war oder hätte sein können. Personal hat aus Perspektive einer Organisation zu funktionieren, während Persönlichkeit eher auf das Gefahrenpotential eigenständigen und widerborstigen Denkens hinweist. Spätestens hier müsste man doch feststellen, dass es dann doch vor allem Manager und Führungskräfte sein müssten, die über Persönlichkeit verfügen sollten, geht es ja auch darum Organisationen doch immer wieder aufzurütteln, um nicht in einen umweltblinden und somit gefährlichen Schlaf zu verfallen. Wie aber soll das gehen, wenn doch auch diese aus Perspektive der Organisation nichts anderes als Personal darstellen, zwar mit Sonderfunktionen ausgestattet, aber eben doch letztendlich schlicht weg einfach Persönlichkeit reduziertes Personal. Und bezahlt werden diese doch auch von einer Organisation, die letztendlich danach trachtet, gewöhnlich zu sein.
Schulungen, die dann hervorzuheben versuchen, dass es Persönlichkeit braucht, um gewisse Ambivalenzen in Organisationen auszuhalten, dass es auch so etwas wie Führungskräfteungehorsam geben muss, dass es Persönlichkeit braucht, will man auch gegen Widerstände Neues durchsetzen (oder bei offensichtlichem Schwachsinn des Neuen diesen verhindern), finden folglich auch nur in einem bereits gezähmten organisationalen Rahmen statt. Dabei stellen doch gerade Organisationen ein wunderbares Feld dar, tatsächlich Persönlichkeit entwickeln zu können, weil sie in hochkomprimierter Form die Ansammlung von Menschen darstellen, die auf engstem Raum unterschiedliche Ziele verfolgen. Diese schlüpfen in Rollen und müssen sie mit ihren persönlichen Wünschen und Bedürfnissen koordinieren. Sie müssen laufend Erwartungen entsprechen, die nur zum Teil mit den ihrigen deckungsgleich sind. Und natürlich müssen sie es mit Menschen aushalten, die man privat niemals ansprechen würde. Zudem wäre da noch die Wertefrage, die einen bisweilen reizt oder gar quält, ist organisationales Handeln nicht mit seinen persönlichen Maximen zu vereinbaren. An all diesen Punkten wäre Persönlichkeit zu entwickeln.
Solange aber Personal als Personal behandelt wird, bleiben die zuvor genannten potentiellen Spannungen unter der Decke der Funktionalität auf Seiten einer «stillen» Persönlichkeit verborgen. Würde man nun gezielt dieses Spannungspotential zum Thema machen und Menschen dem tatsächlich aussetzen, dann entstünden Situationen, aus denen man sich nicht mehr herausziehen könnte und Farbe, also Persönlichkeit, bekennen müsste. Eine Personalentwicklung, die sich vor allem an Führungskräfte richtet, bestünde am besten aus Gruppendynamikseminaren. Kein kuscheliges Wildwasserrafting oder Survivaltrainings in den Bergen als Teamtraining für Führungskräfte, die dem gewöhnlichen Bürohengst den Hauch von Wildnis, Verwegenheit und Heldentum einhauchen sollen, sondern eine Auseinandersetzung mit sich in Anbetracht der Gefühle von anderen Mitmenschen. Betrachtet man sich bestimmte Führungskräfte, dann darf man sogar zweifeln, wie sie überhaupt fähig sind, sich in sozialen Kontexten zu bewegen. Manchmal erscheint es, als müsste man ihnen Menschen und Gefühle erklären. Gewisses soziophobisches Verhalten ist nur anhand einer nicht vorhandenen Wahrnehmungs- und Empathiekompetenz, also einer fehlenden Persönlichkeit zu erklären.
Es geht hier darum, deutlich zu machen, dass der zunehmende Ruf nach Persönlichkeit an unterschiedlichsten Stellen der Gesellschaft auf die strukturelle Schwäche in dieser verweist, die anhand der hohen Organisationsdichte und Funktionslogik zu erklären ist. Organisationen, als jene zentralen personenprägenden Institutionen unserer Gesellschaft, sind bei gegenwärtiger Verfassung nicht in der Lage uns mit jenen Persönlichkeiten zu versorgen, die wir bräuchten. Dabei sind es gerade Persönlichkeiten, die es braucht, um Organisationen zu verändern. Bleibt also das wahre Leben, oder das, was davon übrig bleibt, als einzige Quelle der Persönlichkeitsbildung übrig. Konkret geht es um die direkte und lebendige Beziehung zwischen Menschen, um Kommunikation unter Anwesenden, wie es mal der Soziologe André Kieserling gesagt hat. Genau das dürfte der triftigste Grund sein, sich von der einseitigen Beschallung und Beeinflussung der neuen digitalen sozialen Medien fernzuhalten. Sie sind Gebilde ökonomischer Organisationen, die uns weis machen wollen, dass wir uns erst durchmsie vernetzen und weltweit kommunizieren können. Tatsächlich bilden sie aber eine Scheinwelt des Sozialen. Dieses Versprechen ist genauso eine Lüge und Verblendung wie die Vorstellung, dass Persönlichkeit über Personal- oder Führungskräfteentwicklung innerhalb von Organisationen vermittelt werden könnte.
*bewirtschaftet von frank.dievernich@hslu.ch
vom Competence Center General Management der Hochschule Luzern – Wirtschaft.
Foto: zVg.
ensuite, August 2013