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Alles ist anders

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Har­ald Welz­er (Jg. 1958) gehört zu den in den 1980er-Jahren sozial­isierten Intellek­tuellen, die sich – unter Män­nern – ein eigen­ständi­ges Pro­fil als Experten für Zukun­fts­forschung und Medi­en etabliert haben. Der habil­i­tierte Sozialpsy­chologe ver­bucht mehrere Best­seller, u. a. «Selb­st denken» und «Die smarte Dik­tatur». Nun legt er «Alles kön­nte anders sein. Eine Gesellschaft­su­topie für freie Men­schen» vor.

Die neueren Hash­tag-Bewe­gun­gen set­zen «Werte» und «Iden­tität» als mark­t­taugliche Slo­gans gerne in den Vorder­grund und pro­duzieren damit faire Worthülsen, die oft als heisse Luft ver­puffen, vor allem, wenn sie von Men­schen mit Men­stru­a­tion­sh­in­ter­grund for­muliert wer­den. Erstaunlich daran bleibt, dass diese The­men erst dann gesellschaftliche Rel­e­vanz erre­ichen, wenn sie von älteren Her­ren for­muliert und in gut grif­fige Erk­lärungsmuster von anderen älteren und jün­geren Her­ren medi­al ver­bre­it­et wer­den. Dabei gehen selb­stver­ständlich die Arbeit­en von älteren Damen, die seit Jahren Ähn­lich­es und das meist präzis­er durchgedacht haben, beispiel­sweise die Frei­heit­süber­legun­gen ein­er Ayaan Hir­si Ali, ver­loren. Ein­er­seits weil Frauen als Sach­buchau­torin­nen sofort von anderen Frauen und Män­nern poli­tisch klis­chiert so verortet wer­den, dass sie, wie immer, wenn Frauen sich öffentlich ein­mis­chen (Mary Beard), zum Ver­s­tum­men gebracht wer­den müssen. Dies lei­der sowohl durch Män­ner als auch durch die üble Mit­täter­schaft von Frauen. Sach­buchau­torin­nen wie Angela Nagle («Die dig­i­tale Gegen­rev­o­lu­tion») müssen sich deshalb damit abfind­en, in ein intellek­tuelles Nis­chen­pro­gramm und medi­ales Nie­mand­s­land ver­schoben zu wer­den, da die alten Män­ner mit jun­gen Frauen­logiken weltweit greifen. Nicht nur das: Meist sind diese Frauen dann auch noch geball­tem Hass im Netz aus­ge­set­zt, da nicht zulet­zt viele sich sel­ber pro­gres­siv rüh­mende Men­schen alle Energie darauf ver­wen­den, die Quer- und Klarstim­men so zu mar­gin­al­isieren und zu quälen, dass sie ja keine Bre­it­en­wirkung erzeu­gen.

Dass ich hier Har­ald Welz­er den­noch rezen­siere und nicht Angela Nagle, liegt auch daran, dass ich der Intellek­tuellen im deutschsprachi­gen Raum nicht zusät­zliche Geg­n­er­schaft bere­it­en will, obwohl Nagles Buch eigentlich zur Grund­la­gen­lek­türe im dig­i­tal­en Zeital­ter gehört. Es gibt bish­er aber zu wenige Inter­ven­tion­s­mit­tel, um die Intellek­tuelle vor der Wucht der Öffentlichkeit sol­i­darisch zu schützen. Dies­bezüglich muss sich Har­ald Welz­er keine Sor­gen machen: Er besitzt nicht ein­mal einen Twit­ter-Account und kann es sich leis­ten, ohne Smart­phone seine Kar­riere weit­erzu­ver­fol­gen und am TV (er ist ja Lieblings­gast der «Stern­stunde Philoso­phie») klug über seine Büch­er zu schwatzen.

Welz­er schreibt ein durch und durch pos­i­tives, streck­en­weise pos­i­tivis­tis­ches, d. h. affir­ma­tives Buch zur Gegen­wart. Ein­drück­liche Episo­den bele­gen die Fortschrittskul­tur des Kap­i­tal­is­mus: Ein ehe­mals «Molo­tow­cock­tails wer­fend­er Aussen­min­is­ter» gilt Welz­er als Frei­heits­funk­tion, die sich u. a. dadurch definiert, immer wieder neu begin­nen zu kön­nen. Dass dies nur für arriv­ierte Män­ner inner­halb eines gut funk­tion­ieren­den Män­ner­net­zw­erkes gilt, erwäh­nt Welz­er selb­stver­ständlich nicht. Er sel­ber weiss ja: «Wir leben in ein­er Gesellschaft, in der Wis­sen gelehrt und Unwis­sen prak­tiziert wird.» (S. 24) Deshalb zitiert Welz­er vor allem Sach­buchau­toren und kaum Vor­denkerin­nen, es sei denn, sie seien tot oder ganz beson­ders jung und neu. Welz­ers Buch ist den­noch sehr lesenswert, weil er tat­säch­lich nicht ein­fach Wis­sen zusam­men­fasst, son­dern einen Willen mit konkreten Vorschlä­gen dar­legt, wie die grossen Fra­gen von Demokratie, Glob­al­isierung und Umweltzer­störung poli­tisch beant­wortet wer­den soll­ten.

Hier lesen Sie in mehreren Schrit­ten, was mir beim Lesen von Har­ald Welz­er als poli­tis­che Mass­nah­men in den Sinn gekom­men ist:

Erstens: «Schlips nach Führerbe­fehl» erset­zen. Hier hat Welz­er Han­nah Arendt (ohne sie expliz­it zu erwäh­nen) umge­set­zt, indem er fes­thält, dass «wir nicht Men­schen brauchen, die den Ide­alen des bedin­gungslosen Funk­tion­ierens, der Effizienz und der Opti­mierung» huldigen, son­dern solche «die in hohem Mass wertschätzende Sorgfalt gegenüber materiellen Din­gen und soziale und kul­turelle Kom­pe­tenz haben. Und autonom denken, sprechen, analysieren und han­deln kön­nen.» Ver­suchen Sie dies mal als Frau und Sie erken­nen die Gren­zen der Mach­barkeit ein­er der­ar­ti­gen Forderung sofort. Doch schön, dass wir darüber gere­det haben.

Zweit­ens: Welz­er warnt vor ein­er Poli­tik der Ort­slosigkeit und «men­tal heimat­losen Men­schen» und propagiert mit Han­nah Arendt (dies­mal zitiert) für eine Poli­tik des kreativ­en Stre­its. «Die lib­erale rechtsstaatliche Demokratie ist die zivil­isierteste Form von Gesellschaft, die es jemals gegeben hat», wenn sie denn «verän­derung­sof­fen» bleibt.

Drit­tens: Die Gegen­wart hat sich so sehr nach vorne gedrängt (ich nenne dies die «Dik­tatur des Jet­zt für alle Zeit­en»), dass wenig Zukun­ft und Mod­erne mehr möglich scheinen. Ger­ade die «Dig­i­tal­wirtschaft» baue «Deiche gegen alle unberechen­baren Träume ein­er offe­nen Zukun­ft» (S. 43). Deshalb ist eine «Pro­duk­tivkraft von Träu­men» exis­ten­ziell. Die gegen­wär­tige Wirk­lichkeit sollte deshalb nur als Vorschlag betra­chtet wer­den oder wie ich es for­muliert habe: «Die Zukun­ft ist gemacht. Nur die Ver­gan­gen­heit lässt sich wieder und wieder erfind­en» als Hin­weis darauf, dass, wenn es früher schon ganz anders war, als man sich heute erzählt, die Zukun­ft dur­chaus auch ganz anders ausse­hen kön­nte.

Viertens: Das Pro­jekt «Gen­er­a­tiv­ität». Man lebt schliesslich nicht nur für sich, son­dern nach Möglichkeit auch so, dass nach­fol­gende Gen­er­a­tio­nen bess­er leben kön­nen. Diese Ein­sicht muss nicht darin mün­den, sel­ber Kinder zu haben, son­dern sich als Men­sch den Men­schen vor und nach sich ver­bun­den zu fühlen. Welz­er plädiert für neue Sta­tussym­bole wie Hil­fs­bere­itschaft, Fre­undlichkeit, gute Laune und gemein­schaftlich aktiv zu sein.

Fün­ftens: Plä­doy­er für die Wirk­lichkeit und ein Real­is­mus­train­ing oder wie ich es im «Trump­is­mus – ein Phänomen verän­dert die Welt» for­muliere: «Zeit, der Wirk­lichkeit und Demokratie gegen die herrschen­den Fik­tio­nen von Brand­sprech, Logos, Self­ies und Rat­ings, Raum zu ver­schaf­fen.»

Sech­stens: Schluss mit dem Plat­tformkap­i­tal­is­mus, denn Sinn schrumpft pro­por­tion­al zur Aus­dehnung der Arbeit­szeit. Der Plat­tformkap­i­tal­is­mus hat die einzel­nen Men­schen nicht zu Sinn anges­tiftet, son­dern sie zu völ­lig erschöpften Ich-AGs umge­wan­delt. Auch hier lassen Han­nah Arendt und ihre Aus­führun­gen zum «ani­mal lab­o­rans» grüssen.
Grossar­tig sind Welz­ers konkrete Beispiele und Fra­gen wie: «Wenn Stadt soziale Intel­li­genz ist, was sollen wir dann mit kün­stlich­er.» Oder Zitate wie das vom Come­di­an Olaf Scholz: «Ich träume von einem Auto, in das alle rein­passen, aber kein­er mit­fährt, weil alle schon da sind.»

Siebtens: Aut­ofreie Städte als reale Orte der Öffentlichkeit, auf welche die Demokra­tien drin­gend angewiesen sind, denn «in der analo­gen Stadt», die sich durch das Ver­schwinden von Autos kennze­ich­net «haben wir eine wun­der­bare Verknüp­fung von sozialer und ökol­o­gis­ch­er Nach­haltigkeit. Das Leben wird bess­er und demokratis­ch­er mit weniger Aufwand und Ver­brauch.» Dies set­zt selb­stver­ständlich kosten­losen öffentlichen Verkehr voraus, denn jede soll an der Öffentlichkeit par­tizip­ieren kön­nen. Ger­ade diese Forderung von Welz­er ist seit «Copen­hag­e­nize» abso­lut zutr­e­f­fend, doch in Deutsch­land passiert beispiel­sweise in München genau das Gegen­teil. Da wer­den auf­grund der Woh­nungsnot Tra­ban­ten­städte aus der Natur gestampft mit zero Pla­nung bei öffentlich­er Infra­struk­tur, schliesslich sind «Geiz und Sparen» die einzi­gen typ­isch deutschen Tugen­den.

Zum Schluss meine Lieblingszahlen auf Seite zwei­hun­dertei­n­un­dachtzig. Die «Banken­ret­tung» (die in meinen Augen nichts anderes war als der zeit­genös­sis­che Ablasshan­del für die mächtige Kirche Finanzkap­i­tal­is­mus) hat Deutsch­land ca. 70 Mrd. Euro gekostet, ohne dass man dabei den Anstieg der Arbeit­slosigkeit, Steuer­aus­fälle und recht­spop­ulis­tis­che Zer­störung der Demokratie mitrech­net. Die Wieder­auf­forstung der Regen­wälder, die Restau­rierung geschädigter Wälder und die Wieder­auf­forstung riesiger Flächen wür­den in Deutsch­land höch­stens 40 bis 50 Mil­liar­den Dol­lar jährlich kosten und den Neben­ef­fekt haben, dass Wald anpflanzen und den realen Boden pfle­gen eine dur­chaus sin­n­fäl­lige Sache ist.

Zusam­menge­fasst: Har­ald Welz­er hat ein per­fek­tes Buch für Män­ner geschrieben, auf die die Welt angewiesen ist und die sich vielle­icht durch einen Geschlechtsgenossen, der viele zeit­genös­sis­che Geschlechtsgenossen und ihre Pro­jek­te rühmt, inspiri­eren lassen. Es ist auch ein Buch für Frauen, die sich immer noch lieber mit ihrem Kör­p­er als mit der Welt befassen, denn die Hoff­nung, dass auch sie sich ändern kön­nen, ist in ein­er Gesellschaft­su­topie für freie Men­schen ja dur­chaus erlaubt. Alle anderen dür­fen mithelfen bei Ideen, die grosse Frauen schon längst for­muliert haben, da ger­ade sie wieder und wieder erfahren: Eine wirk­lich men­schliche Welt ist nur eine, die aus Tun und nicht ein­fach aus Schönre­den beste­ht.

 

Har­ald Welz­er, Alles kön­nte anders sein. Eine Gesellschaft­su­topie für freie Men­schen.
S. Fis­ch­er Ver­lag, 2018
ISBN978‑3–10-397401–0

Artikel online veröffentlicht: 29. April 2019