Patrik Etschmayer - Es ist einfach, den grauenvollen Wahnsinn des Vernichtungskrieges in der Ukraine nur auf den irren Nationalismus von Putin und seinen Mordgesellen zurück zu führen. Doch dieser blutrünstige Wahn brauchte mehr als nur das gekränkte Ego eines einstigen KGB Offiziers und Kleinkriminellen. Nein, es brauchte auch den Kapitalismus. Jenen Kapitalismus, der von sich behauptete, den Kommunismus und die Sowjetunion 1990 besiegt zu haben.
Diese Lüge, dass es der Kapitalismus und nicht auch und vor allem Demokratie und soziale Marktwirtschaft gewesen waren, welche dem Westen die Stärke gegeben hatten, gegen den Kommunismus zu bestehen, wurde so laut verkündet,dass jeder Einwand gegen diese Legende ertränkt wurde. Rechtssicherheit, Strafen für Korruption, gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten und andere entscheidende Aspekte des ‘Westens’ waren plötzlich nur noch nebensächlich. Und dies mit Vorsatz. Denn der Osten sollte die Beute des Kapitals werden und seine Fesseln im Westen gesprengt werden. Dabei waren niemals politische Freiheit, Selbstbestimmung oder eine faire Gesellschaft das Ziel. Ziel war es, den alten Kolonialistentrick zu spielen: Günstige Rohstoffe zu kaufen und im Gegenzug Fertigprodukte zu hohem Gewinn zu verticken.
Dabei war es nie wichtig, ob in Russland Recht oder Unrecht herrschten. Putins ständig grösseren Grausamkeiten, die systemische Korruption, die Zensur, die Morde an Journalisten und Oppositionellen waren keine Hindernisse, nein im Gegenteil! Despotismus gebiert als erstes Zuverlässigkeit. Keine wechselnden Regierungen und Politikrichtungen, keine nervigen Umweltschutzgesetze und Klimawandel ist was für Greta, doch die würde keine zehn Minuten vor einer russischen Schule sitzen dürfen. Die russische Autokratie war der feuchte Traum westlicher Neo-Liberalisten: Alles liess sich mit Geld kaufen: Gesetze, Märkte, Politiker und Politiken. Und zu Hause liess sich das heran ratzen an den grossen Diktatur mit Marktanteilen, billiger Energie und einem ‹verlässlichen› Partner rechtfertigen. Gleichzeitig war Russlands billige Energie eine fantastische Waffe gegen Klimawandel-Massnahmen.
Und Putin sah, womit er davon kam, solange Öl und Gas zuverlässig flossen, ihn und sein Vasallen mit Milliarden bereicherten und es ihm erlaubten, auch dem Volk einige Wohltaten zukommen zu lassen. Er kam mit Wahlfälschung, Einschüchterung, Mord, Totschlag, Krieg und Folter davon und wurde dafür für seine Zuverlässigkeit von denen gelobt, deren Niedergang er wünschte.
Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts wurde Putin immer diktatorischer. Schon früh führte er neokoloniale Kriege und das Muster seiner Handlungen mag damals erratisch gewirkt haben, ist im Spiegel der aktuellen Ereignisse allerdings auf einmal stringent und logisch: Die Wiedererrichtung eines absolutistischen, kontinentalen Kolonialreiches. Und er beobachtete ohne Zweifel bei jedem dieser Schritte die Reaktion des Westens, liess keine Schwäche, keinen Kompromiss mit den angeblichen Ansprüchen und hehren Grundsätzen der Demokratien ausser acht und realisierte, dass die wahren Mächtigen unterdessen in den Chefetagen der Konzerne sassen und dass dort Moral und Werte abseits des ROI und der Zahlen in den Quartalsabschlüssen lediglich lästige Hindernisse im Kampf um Gewinne, Marktanteile und Dividenden für die Aktionäre waren. Hier hatte er die Verbündeten, die Autokraten im Westen, die politische Macht en Gros mit Parteispenden einkauften und, wie zum Beispiel der Financier Peter Thiel, ganz offen faschistoides Elitedenken propagieren. Solche Leute züchten geradezu eine neue Politikergeneration heran, deren üble Vorbilder Tony Blair und Gerd Schröder waren und nun als blankpolierte Gestalten wie die eines Sebastian Kurz (der glücklicherweise gescheitert ist) ihre Köpfe aus dem opportunistischen Schlamm strecken.
Die vorsätzliche Schwächung der sozialen Marktwirtschaft, deren Niedergang absurderweise genau jene Rechten stärkt, die diesen Sozialdarwinismus fördern, spielte weiter in die Karten von Putin. Ja, er der einstige Kämpfer für die kommunistische Weltrevolution in den Reihen der KGB hatte seine fünfte Kolonne im Westen in den Reihen des neoliberalen Turbokapitalismus gefunden. Der Autor ist sicher, dass Putin diese Ironie in vollen Zügen genoss und sich über die halbherzigen Sanktionen 2014 nach dem ersten Ukraine-Krieg amüsierte, welche vor allem aus ökonomischem Opportunismus so windelweich ausfielen, wie sie am Schluss waren.
Umso rätselhafter, warum Putin nicht einfach weiter wartete, mit seinem Angriff auf die Ukraine. Der Westen war bis zum Einmarsch der Truppen in die Ukraine uneinig, zersplittert und so tief vom Kapital-Opportunismus zerfressen, dass es eigentlich nur eine Frage der Zeit bis zum endgültigen Ausverkauf war. Geht es Putin gesundheitlich so schlecht, dass er sich vor seinem Ableben noch ein Denkmal aus Blut und Leid bauen wollte?
Zumindest derzeit hat die rücksichtslose, unmenschliche Brutalität (die Russland ja schon in Tschetschenien und in Syrien gezeigt hat) im Westen bei vielen die Realisation verursacht, dass ein brutaler Diktator vielleicht doch nicht der beste Freund ist (ausser in SVP, FPÖ und AfD, die sind sich da nicht so sicher) und nur ein gemeinsames, starkes Auftreten Putin bremsen kann.
Putin kann immer noch auf den ökonomischen Opportunismus hoffen, die ‹dieser Krieg ist zu teuer, lassen wir ihn doch›-Fraktion, die nicht realisiert oder der es schlicht egal ist, dass das Morden auch hierhin kommen wird, wenn Putin nicht jetzt gestoppt wird.
Hinter all dem steht die Tatsache, dass es dieser Opportunismus über Jahrzehnte und die Gier und Bereitschaft, einen Gewaltherrscher, der zudem über eine riesige Armee verfügt, Abermilliarden im Austausch für Rohstoffe zu überweisen, Geld das nun, geronnen zu einer brutalen Invasionsarmee, ausgerechnet uns und unsere Werte bedroht. Geschenkt: Gewaltherrscher mit Rohstoffen zu unterstützen, ist ja eine westliche Tradition. Doch wenigstens bedrohte Saudi Arabien Europa nie mit Atomwaffen und einer Invasionsarmee.
Es sollte nun endlich einleuchten: Werte, Wirtschaft und Politik können nicht nach Belieben getrennt betrachtet werden. Zu glauben, ökonomisch auf der Geiz-ist-Geil Schiene fahren und gleichzeitig ewige Werte hochhalten zu können, führt geradewegs in die Katastrophe. Wer das nicht glaubt, schaue in die Ukraine, nach Tschetschenien, ja, nach Moskau.
Bild aus Herr der Ringe: Saurons Auge