Von Dr. Regula Stämpfli - Louis Lewitan und Stephan Lebert haben ein kluges, stilles und radikal wichtiges Buch vorgelegt. «Der blinde Fleck» ist ein zauberhaftes Werk, das, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand gelegt wird. Es geht um das Geschichtenerzählen, es geht um Täterkinder, Opferkinder und um das grosse Schweigen als Belastung für Nachkommen und Gesellschaften.
Louis Lewitan, deutscher Star-Psychoanalytiker und Autor, Jahrgang 1955, ist ein erwachsenes Kind, das seine Familie nie kennenlernen durfte. Grosseltern, Onkel, Tanten, sie alle wurden umgebracht. Wie und wo sie ermordet wurden, liess sich nicht mehr rekonstruieren, selbst die Leichen sind an keinem Ort oder überall, wo das europäische Judentum begraben liegt. Stephan Lebert, Journalist, hat Jahrgang 1961 und stammt aus einem Elternhaus, dessen Vater begeisterter Hitlerjunge gewesen war und sich deswegen dann ein Leben lang schämte. Stephan Lebert meint im Buch, dass diese Scham und dieses Misstrauen gegen alle Systeme und Menschen sich auf ihn übertragen hätten – was für Stephan Leberts Lebens- und Karriereweg als Journi durchaus wichtig und förderlich war. Es sind erschütternde Geschichten, die die beiden zauberhaft intelligenten Männer, die ich auch persönlich kennenlernen durfte, durch Zufallsbekanntschaften auf ihrem Weg nach der Suche der vererbten Traumata des Zweiten Weltkrieges finden. Sie stossen auf Familien, die das Schweigen der Täter aufbrechen und Wege suchen, ihre eigene Menschlichkeit in der schrecklichen Mordvergangenheit ihrer engsten Familienmitglieder zu finden, zu bewahren und zum «Nie wieder ist jetzt» zu transformieren. Im Kapitel «Patient Deutschland» schreiben sie: «Wäre das Deutschland 1945, nach Kriegsende, ein Mensch gewesen, man hätte Verständnis gehabt, dass dieser Mensch in die Verdrängung geflüchtet ist. Dieser Mensch deutete um und log und leugnete – und wollte nur noch nach vorne schauen.» Das Schweigen bricht nun auf, aber früher wäre so viel besser gewesen. So viel Zeit vergeudet: «Der Preis des Schweigens war hoch. So viele Lügen kommen jetzt erst zum Vorschein.»
In der medialen Öffentlichkeit unserer Gegenwart ist kein Raum für Nuancen. Wer versucht, den Zusammenhang von Tätergeneration, Schuldverdrängung und heutigen Emotionalisierungsblasen herzustellen, wird schnell selbst verdächtig. Genau darum ist «Der blinde Fleck» so klug: Es bleibt persönlich und entzieht sich gängigen Rastern. Es ist poetisch, spezifisch und gleichzeitig universell.
Was Lewitan und Lebert beschreiben, gestaltet das Drama der Gegenwart: der Verlust der historischen Tiefendimension. Zwischen Influencer-Statements, politisierten Redaktionslinien und Tiktok-Erinnerungsaktivismus verschieben sich die Koordinaten: Die Erzählung der Überlebenden wird zur Pose, historische Genauigkeit zur Zumutung, das Erinnern zur Inszenierung. Wir leben in einer Zeit, in der Täternarrative wieder salonfähig werden – nicht durch plumpes Leugnen, sondern durch ein geschicktes Reframing. Es ist kein Zufall, dass antisemitische Inhalte unter dem Deckmantel von Menschenrechtsaktivismus millionenfach geteilt werden, während die Schoah als «weisse Geschichte» abgetan wird. Insofern ist das Buch auch eine sehr persönliche Gegenerzählung zu dieser digitalen Demenz, von der sich ja ensuite mit dem radikalen Rückzug aus allen sozialen Medien verabschiedet hat. Übrigens ein grosses Aufatmen, und es gibt so viel mehr Zeit zum Lesen von Büchern wie «Der blinde Fleck»!
Tiktok, Telegram, Facebook, X et al. pushen Täter jeglicher Couleur, während Opfer gegeneinander ausgespielt werden. Fakten verlieren an Gewicht gegenüber Frames. Alle sind Opfer. Täterkontexte werden verkürzt oder ganz getilgt: Storys lieben halt immer die «Bad Guys». «Der blinde Fleck» erinnert uns daran, wie wichtig zutiefst menschliches und nicht maschinell konstruiertes Erinnern ist. Was bleibt eigentlich von unseren Geschichten in Zeiten von Deepfakes, KI-generierter Geschichte und Echtzeitpropaganda? Das Buch ist eine grosse Mahnung, dass der Kampf um die Wahrheit nicht im Archiv entschieden wird, sondern im Jetzt. Lewitan und Lebert schreiben gegen das Schweigen, aber auch gegen die Überwältigung durch Lärm. Das ist revolutionär. Es ist ein Buch, das sich gegen die Vereinfachung stellt, in der die Gegenwart so gerne Zuflucht sucht. Die Aufforderung: Erzählt euch einander!
Vor allem auch ganz konkret, wie ein erschütterndes Beispiel im Buch zeigt:
«Bis zum August 1944 hatte die zuständige NS-Behörde in den Niederlanden, Belgien und Frankreich Kompletteinrichtungen von rund 65 000 Wohnungen abtransportieren lassen. 674 Züge mit rund 27 000 Güterwaggons und 500 Frachtkähne waren dafür nötig. Hinzu kam der lukrative Seetransport. Im Dezember 1942 landete in der Hansestadt Bremen beispielsweise ein Frachtschiff mit ‹Judengut aus Holland›: 220 Armsessel, 105 Betten, 363 Tische, 598 Stühle, 126 Schränke, 35 Sofas, 307 Kisten mit Glasgeschirr, 110 Spiegel, 158 Lampen, 32 Uhren, ein Grammofon und zwei Kinderwagen.»
Es war die Spedition Kühne & Nagel. Ein Familienunternehmen. Der Firmenbesitzer wurde damals als Mitläufer eingestuft, für die Geschäfte während der Nazizeit wurde er nie zur Rechenschaft gezogen. Lewitan und Lebert meinen in «Der blinde Fleck» dazu: «Den Leserinnen und Lesern wird vielleicht aufgefallen sein, dass das Wort Schuld in diesem Buch kaum vorkommt. Das ist nicht die Kategorie, die uns interessiert. Aber doch trägt Klaus-Michael Kühne (Sohn des Firmenbesitzers) eine Verantwortung, und zwar für etwas, das er nicht getan hat. Er hat das Schweigen seines Vaters und seines Onkels fortgesetzt.»
Es gibt einige solcher Geschichten von unermesslichem Reichtum, der auf die Geschäfte im Mörderregime zurückgeht. Siemens, Daimler, Krupp, Bayer, die Liste kann sich beliebig fortsetzen, profitierten vom Schweigen. Die Familie Quandt (BMW) gehört bis heute zu den reichsten Familien Deutschlands. Es gab lange keine Entschädigungszahlungen und wenn, dann sehr geringe, der Reichtum blieb in den privaten Unternehmen, die durch Enteignung Milliarden gescheffelt haben. Davon erzählt auch Éric Vuillard in seinem herausragenden Buch, das wir auch schon besprochen haben: «Die Tagesordnung».
In «Der blinde Fleck» kommen historische Episoden und viele Zufallsbekanntschaften zur Sprache. Lewitan kann alle ansprechen – das habe ich persönlich erlebt. Es gibt keinen offeneren Menschen als ihn, und alle schütten ihm ab der ersten Minute ihr Herz aus. Sein Buch, mit seinem Freund Stephan Lebert verfasst, liest sich deshalb streckenweise wie ein Roman – so gut ist es erzählt. Zum Schluss aber eine Warnung: Dieses Buch wird Ihr Leben und Ihre Sprache verändern. Beispielsweise die Wortwahl des Leids. In Deutschland hat sich ja der Begriff «Holocaust» eingebürgert – eigentlich völliger Unsinn und grösstmöglicher Zynismus. Das Wort heisst wörtlich «völlig verbrannt», holókaustos. «Judenmord» wäre die korrekte Bezeichnung, deutsch und nicht fremdwörtisch versteckt. Schon Bruno Bettelheim, der bekannte Kinderpsychoanalytiker, meinte kurz nach der Schoah: «Durch die Verwendung des Begriffs ‹Holocaust› oder ‹Brandopfer› werden mittels bewusster und unbewusster Bedeutungsverschiebung völlig falsche Zusammenhänge hergestellt zwischen dem fürchterlichen Massenmord einerseits und alten Ritualen von tiefreligiöser Natur (im Altgriechischen stand Holókaustos für das Verbrennen von Opfertieren) andererseits.» Deshalb plädieren Lewitan und Lebert mit Fug und Recht für deutsche Begriffe wie Judenmord oder Ermordung des europäischen Judentums. Wenn ein Fremdwort, dann bitte das israelische: Schoah (Untergang, Katastrophe) oder eben das wirklichkeits- und geschichtsnahe Wort «Judenmord». Das Fehlen deutscher Wörter für deutsche Taten deuten die Autoren auch aus psychologischer Sicht: «Die Täter werden mittels Fremdwort, Neutrum, ritueller Kontext nachträglich legitimiert, der Massenmord an den Juden sozusagen aus der deutschen Sprache entsorgt.»
Die Journalistin Christiane Hoffmann (so erzählt sie es den Autoren Lewitan und Lebert) hat sich auf eine Wanderung begeben und darüber in «Alles, was wir nicht erinnern» geschrieben. Über 550 Kilometer ging sie den Fluchtweg ihres deutschen Vaters, Wehrmachtssoldat, der immer nur von den «schrecklichen Untaten» gesprochen hat, von Schlesien in die BRD nach. Was wir immer vergessen: 12 Millionen Deutsche wurden nach 1945 vertrieben – auch darüber wird geschwiegen. Auf einer ihrer Lesungen traf aber dann Christiane Hoffmann auf den Sohn eines Schoah-Überlebenden, der einen der grauenhaften Todesmärsche aus dem KZ überlebt hatte. Es war der polnische Verleger ihres Buches – auch er hatte geschwiegen und erst an der Lesung realisiert, dass er sich auch auf den Weg machen sollte. Hannah Arendt meinte einmal: «Das Geschichtenerzählen enthüllt den Sinn, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen.» Diese Gespräche des Dazwischen sind auch heute dringend nötig. Lewitans und Leberts Buch klingt hier nun etwas arg schwer, dabei ist es enorm lustig: Der Psychoanalytiker Lewitan erzählt auch gerne mal einen Witz.
«Jeder Mensch ist Teil einer Vergangenheit, die durch Erzählungen verformt, verklärt und verfestigt wird – bis sie in die kollektive familiäre Erinnerung eingeht», meinen die Autoren als Fazit und weiter: Wer sich der Vergangenheit stellt, wird ein besseres Leben bringen, die «Familienlast» abwerfen können und den Blick auf sich selber klären.
Eine wärmste Buchempfehlung – mein Leben wurde durch die Lektüre schon verändert.
Louis Lewitan, Stephan Lebert. Der blinde Fleck: Die vererbten Traumata des Krieges – und warum das Schweigen in den Familien jetzt aufbricht. Heyne-Verlag 2025.