Nachlese zur Berliner Bestenschau

Bis 2001 wur­den ans berühmte Berlin­er The­atertr­e­f­fen offiziell noch zehn «bemerkenswerte» Insze­nierun­gen ein­ge­laden. Danach änderte man den Wort­laut zum Superla­tiv «die zehn bemerkenswertesten». Ob die Auswahl dieses Prädikat ver­di­ent, darüber wird in Berlin jew­eils heftig gestrit­ten, obwohl diese Frage let­ztlich gar nicht beson­ders inter­es­sant ist. Fest ste­ht aber: das Berlin­er The­atertr­e­f­fen hat Bemerkenswertes zu zeigen. Kul­turkri­tik hat sich nach Berlin begeben und fünf Stücke genauer ange­se­hen.

Das Berlin­er The­atertr­e­f­fen feiert dieses Jahr sein fün­fzig­stes Jubiläum. Ins Leben gerufen wurde es ursprünglich, um dem abgeschnit­te­nen West­ber­lin den kul­turellen Anschluss an die Bun­desre­pub­lik zu ermöglichen. Eine Jury wählte die zehn Saison­höhep­unk­te aus, welche dann nach Berlin ein­ge­laden wur­den. An diesem Prinzip hat sich in den fün­fzig Jahren eigentlich nichts geän­dert. Auch dieses Jahr reiste die siebenköp­fige Kri­tik­er­jury im deutschsprachi­gen Raum herum, um aussergewöhn­lich­es The­ater zu ent­deck­en. Nach dem Besuch von rund 420 Vorstel­lun­gen haben die Juroren die zehn «bemerkenswertesten Insze­nierun­gen» gekürt und nach Berlin geladen. Hier waren sie nun alle geballt in zwei Wochen zu sehen.

Damit ist auch gle­ich der Reiz des Besuch­es dieses Fes­ti­vals erk­lärt: Es ist eine Besten­schau. Und da die Geschmäck­er bekan­ntlich unter­schiedlich sind, kön­nen die Zuschauer sich vorzüglich darüber stre­it­en, warum ger­ade dieses Stück nicht hätte ein­ge­laden wer­den sollen und dafür einige andere schmer­zlich ver­misst wer­den. Auch ich reise mit dem Vor­satz an, zu ergrün­den, ob die Jury gute Arbeit geleis­tet hat. Ich habe mir ein anspruchsvolles Pro­gramm zusam­mengestellt und will mir in sechs Tagen fünf Pro­duk­tio­nen anschauen. Das sind immer­hin fün­fzig Prozent des bemerkenswertesten deutschsprachi­gen The­aters des Jahres. Auf nach Berlin!

Antike und Dada

Den Start macht Medea in der Regie von Michael Thal­heimer. Zu sehen ist ein schnörkel­los­er Abend, der hochkonzen­tri­ert das Dra­ma von Euripi­des erzählt. Als einzige Fig­ur spricht Medea erhöht auf einem Sims zu den anderen. Obwohl sie am Ende der Bühne ste­ht sind ihre Worte und Gedankengänge klar zu hören, lauscht der Zuschauer jedem ihrer Worte mit der vollen Aufmerk­samkeit. Musik gibt es nur ein­mal kurz und inten­siv während der Kind­stö­tung, anson­sten sind nur Stim­men und Schritte zu hören. Jede neue Szene erhält eine neue Licht­stim­mung, die mit eini­gen konzen­tri­erten Spots neue Schat­ten in das karge Büh­nen­bild wirft. Das bemerkenswerte an dieser Insze­nierung ist die Konzen­tra­tion, mit welch­er dieser uralte Stoff vor­ge­tra­gen wird, frei von jeglichem The­ater­fir­lefanz.

Ganz anders Murmel Murmel. Das Stück aus der Fed­er von Dadaist Dieter Roth kommt einzig mit dem Wort Murmel aus. In Her­bert Fritschs Insze­nierung spie­len elf Schaus­piel­er in einem wun­der­bar bun­ten Büh­nen­bild, sprechen das Wort mal einzeln, mal im Chor, mal rhyth­misch, mal durcheinan­der und da das Wort alleine nicht so viel hergibt, wird mit viel Slap­stick für Stim­mung gesorgt. Ein Musik­er begleit­et die Schaus­piel­er mit seinem Xylophon und dirigiert sie durch manche schwierige Murmel­pas­sage. Das ist alles sehr unter­halt­sam und man murmelt auch zwei Stun­den nach Vorstel­lungsende selb­st noch vor sich hin, doch irgend­wie auch wahnsin­nig nichtssagend – und genau deshalb wieder bemerkenswert.

Romane in Über­länge

Romanadap­tio­nen sieht man schon lange auf den deutschsprachi­gen Büh­nen. Die Frage ist hier immer, ob der Trans­port vom Buch zum The­ater­stück gelingt. In Jed­er stirbt für sich allein wird der Ansatz gewählt, beschreibende Pas­sagen von den Roman­fig­uren selb­st lesen zu lassen. Während eines Dialoges hört man eine Fig­ur also auf ein­mal zu sich selb­st sagen: «Es wurde ihr plöt­zlich schlecht». Der Roman von Hans Fal­la­da erzählt die Geschichte eines deutschen Ehep­aares, das auf­grund des Kriegstodes ihres Sohnes begin­nt, Flug­blät­ter gegen das Naziregime in Umlauf zu brin­gen. Wir begleit­en das Paar bis zu deren Verurteilung. Regis­seur Luk Perce­val lässt sein Ensem­ble prak­tisch ohne Büh­nen­bild und Req­ui­siten spie­len und ver­traut dem Vorstel­lungsver­mö­gen des Zuschauers. Das Stück dauert über vier Stun­den und schafft es trotz­dem, dass man bis zulet­zt geban­nt der Geschichte fol­gt. Das ist schon eine Leis­tung. Die Art und Weise aber, wie der Roman für die Bühne umgeschrieben wurde, hat man so schon mehrfach gese­hen.

Am meis­ten Mühe habe ich mit Krieg und Frieden. Es han­delt sich erneut um eine Romanadap­tion und die dauert dies­mal sog­ar über fünf Stun­den. Der Wälz­er von Tol­stoi wird vom Leipziger Ensem­ble the­ma­tisch abge­han­delt (Ich, Liebe, Sehn­sucht, Glaube etc.) und man spürt als Zuschauer, dass viel Den­kleis­tung in die Insze­nierung geflossen ist und sich die Regie wie auch die Schaus­piel­er inten­siv mit dem Roman auseinan­derge­set­zt haben. Damit hat es sich aber auch. Als Zuschauer sieht man nur das Ergeb­nis des Prozess­es, die Über­legun­gen dahin­ter erschliessen sich hinge­gen in vie­len Fällen nicht. Oft wirkt die Insze­nierung verkopft und der Funke springt nicht wirk­lich rüber. Da hil­ft auch die wun­der­bare Live-Musik und das tolle, aus ein­er schwenkbaren riesi­gen Plat­tform beste­hende Büh­nen­bild nicht. Der Abend rauscht an mir vor­bei, vielle­icht auch weil ich noch die vier Stun­den des Vor­abends in den Knochen habe.

«In der Klei­dung steck­en Men­schen. Das ist der Nachteil.»

Die let­zte Insze­nierung auf meinem kurzen Berlin­trip ist Die Strasse. Die Stadt. Der Über­fall. von Elfriede Jelinek. Die Lit­er­aturnobel­preisträgerin hat den Münch­n­er Kam­mer­spie­len ein Stück geschrieben, das die Max­i­m­il­ianstrasse im Fokus hat, Münchens Mode­meile. Wie man es von Jelinek gewohnt ist, wird das The­ma Mode sprach­lich von allen Seit­en durch­leuchtet. Auch das Büh­nen­bild kommt passend daher: Zu Beginn der Insze­nierung wird Eis auf der Bühne verteilt, durch welch­es die Schaus­piel­er in ihren hochhack­i­gen Schuhen wun­der­bar tram­peln kön­nen. Im Schein­wer­fer­licht sehen die Eis­stücke wie Dia­man­ten aus und ver­flüs­si­gen sich (wie das Geld an der Max­i­m­il­ianstrasse) im Laufe des Abends sel­ber. Sechs Schaus­piel­er und eine Schaus­pielerin arbeit­en sich wun­der­bar kurzweilig am Jelinek-Text ab, wobei die Her­ren in Sachen Mode der Dame in nichts nach­ste­hen, auch nicht im Jam­mern über kör­per­liche Unzulänglichkeit­en. Toll, wie es der Münch­n­er Insze­nierung gelingt, diesen sprach­lich doch sehr sper­ri­gen Jelinke-Text auf die Bühne zu brin­gen.

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Artikel online veröffentlicht: 26. Mai 2013 – aktualisiert am 17. März 2019