Tanze. Fühle!

Beim Betreten der Bühne A des The­aters der Kün­ste sucht man vergebens nach Halt. Ein Gefühl des Ver­loren­seins stellt sich augen­blick­lich ein. Keine Stüh­le, kein markiert­er Hal­bkreis, der darauf hin­weist, man solle sich als Zuschauer dort ein­find­en. Keine erhöhte Bühne und kein Büh­nen­bild sind zu find­en, um die Welt, in die man gle­ich ein­tauchen wird, von der leeren Halle abzutren­nen, einen Schutzbere­ich zu schaf­fen. Nur zwei weisse Tüch­er, mit­ten im Raum aufges­pan­nt, weisen darauf hin, dass man sich wohl nicht ver­laufen hat, nicht verse­hentlich eine leere Lager­halle, ein Pro­vi­so­ri­um oder eine Probe­bühne betreten hat. Lange hält sich dieses Gefühl. Die Zuschauer, am Boden kauernd, blick­en unruhig umher, zur Decke und auf den Boden, beobacht­en einan­der und die eige­nen Hände im Schoss. Dann geht das Licht aus.

Als die Tänz­erin (Jas­mine Ellis) kurz darauf mit ein­er Stirn­lampe den Raum betritt, begin­nt ein Spiel der Beobach­tung. Eine Studie, möchte man fast sagen. Immer wieder knipst sie die Lampe aus, wieder ein, tanzt, ren­nt, springt, sitzt, berührt sich, dehnt ihren Kör­p­er, zieht an ihrem Kostüm (Marisa Tiefenthaler/Elisabeth von der Thannen), öffnet und schliesst Klettver­schlüsse. Die Bilder und Geräusche, die dabei entste­hen, bleiben auch nach zig­fach­er Wieder­hol­ung eigen­willig. Gle­ichzeit­ig wer­den Auf­nah­men (Video: Jen­nifer Amelle Vogel), intim­ste Ein­blicke in Grossauf­nahme, des Kör­pers und der Motorik der Tänz­erin auf die Lein­wände pro­jiziert. Der Zuschauer beobachtet, hört, sieht und ver­schwindet langsam in seine eigene Gedanken­welt. So sieht ein Nack­en aus, wenn die Haut sich span­nt, die Hände, wenn die Fin­ger gegen den Boden drück­en, Beine, Gelenke; so hört sich also das Anklei­den und Entk­lei­den an, das Geräusch von Stoff, wenn man ihn in der Bewe­gung streift – fast komisch, wie einem das so nie aufge­fall­en ist. Dann set­zt die Musik ein (Mar­tin von All­men): schnell, mech­a­nisch, Ellis bewegt sich im Takt. Die Gelenke, die Sehnen, die Knochen, die Haut, alles greift ineinan­der wie Zah­n­räder, alles passt und wirkt dabei beson­ders fremd. Zum Schluss ste­ht Ellis ganz still da, ihr Atem beruhigt sich. Sie ste­ht mit dem Rück­en zur Halle und blickt minuten­lang auf eine der Lein­wände. Darauf ist noch immer sie selb­st zu sehen.

Die Sinnlichkeit des Kör­pers

«see-through», ein Mas­ter­pro­jekt der Zürcher Hochschule der Kün­ste, kom­biniert zeit­genös­sis­chen Tanz, Video, Ton und Instal­la­tion (Konzept: Alli­son Nichol Longtin), um die starre Tren­nung zwis­chen Darstel­lung und Beobach­tung aufzus­pren­gen. In immer neuen Per­spek­tiv­en regen die auf Lein­wände pro­jizierten Auf­nah­men der Tänz­erin zur Bewe­gungsstudie an, zur Selb­st- und Fremd­beobach­tung. Stetig ver­mis­chen sich dabei die Ein­blicke mit den eige­nen sinnlichen Erfahrun­gen und es ist bald fast so, als würde man selb­st durch die leere Halle tanzen, sich selb­st berühren und erfahren. Schnell wird „see through“ zur kinäs­thetis­chen Erfahrung.

Nach rund ein­er Stunde endet «see-through» wie es begonnen hat – mit Dunkel­heit und dem Gefühl, beim Ver­lassen der Bühne A irgend­wo falsch abge­bo­gen zu sein und nicht jene Per­for­mance gese­hen zu haben, die man sich doch eigentlich in die Agen­da einge­tra­gen hat­te. Und genau da liegt die Stärke von «see-through». Tat­säch­lich wer­den Sehge­wohn­heit­en und Sitz­muster gesprengt. Die Unruhe, welche dieser Verän­derung entspringt, paart sich mit der unge­heuren Ruhe der pro­jizierten Auf­nah­men. Der Tanz rückt in den Hin­ter­grund und der Kör­p­er – jen­er der Tänz­erin wie der eigene – wird präsen­ter. Später, an der frischen Luft, legt sich dieses Ver­loren­sein, die Unruhe. Man find­et sich langsam wieder in die gewohnte Welt ein, spürt sich wieder im All­t­ag – nur scheinen die fünf Sinne plöt­zlich mehr zu fassen als je zuvor.

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Artikel online veröffentlicht: 11. Mai 2013 – aktualisiert am 17. März 2019