Blut, Miniröcke, Jargon. Wie man Szenetexte fabriziert

(Con­stan­tin Seibt) —

Mit 17 schrieb ich den ersten Text, der eine nen­nenswerte Wirkung hat­te. Ich musste erst zum Rek­tor, dann zum Schulpsy­cholo­gen. Der erste hielt mir eine Predigt, der zweite stellte Fra­gen. Einzig eine Note bekam ich nicht.

«Wir sind ein human­is­tis­ches Gym­na­si­um», sagte der Rek­tor. «Und in 20 Jahren habe ich nie so etwas Wider­lich­es gele­sen. Für so etwas geben wir keine Zen­sur.»

Mein Auf­satz war zugegeben keine klas­sis­che Inter­pre­ta­tion von Schillers «Wil­helm Tell». Er bestand aus der Schilderung eines Schweiz­er Bergdorfs, dessen Bewohn­er sich gegen­seit­ig umbracht­en. Ohne Erk­lärung, aber mit Land­wirtschafts­geräten.

Am meis­ten regte sich der Rek­tor über die Szene auf, in der ein Senn ein­er Kuh mit der Ket­ten­säge das Euter absägte. Der Vor­gang war in fast pho­to­re­al­is­tis­chem Stil geschildert. Etwa mit dem Detail, dass die Milch sich um das Säge­blatt herum in blutige But­ter ver­wan­delte.

«Gibt es irgen­deine Recht­fer­ti­gung für so etwas der­ar­tig Krankes?», tobte der Rek­tor.

Ich stam­melte etwas von der kon­se­quenten Ausle­gung der Auf­satzfrage «Was bedeutet Frei­heit heute?». Wenn ich mich richtig erin­nere, war die Grun­didee des Textes, dass in der fett gewor­de­nen Schweiz Gessler mit­tler­weile in allen Bewohn­ern steck­te; dass also zwecks Wieder­erlan­gung der Frei­heit alle alle ermor­den müssten. Und die Kuh? Ein Sym­bol.

Der Rek­tor star­rte mich an und sagte: «Sag mal: Was geht eigentlich in dir vor?»

Ich weiss nicht mehr, was ich antwortete. Sich­er nichts Ehrlich­es. Denn die ehrliche Antwort war: Während ich mit ihm redete, spürte ich neben Aufre­gung und Scham ein über­wälti­gen­des Glück. Eine Schulzeit lang war ich mein­er Mut­ter san­fter Sohn gewe­sen. Nun hielt mich zum allerersten Mal jemand für gefährlich.

Am Ende eines lan­gen Tun­nels öffnete sich eine ferne Tür. Ich hat­te meinen Beruf ent­deckt.

Superkurze Miniröcke

Es lief in diesem Fall, glaube ich, gle­ich wie mit den Mäd­chen in unglaublich kurzen Miniröck­en, die nach­mit­tags um drei das Tram betreten, geschminkt und gek­lei­det, als kämen sie von der Kokain­par­ty eines Mil­liardärs. Sie sehen ver­ruchter und ele­gan­ter aus, als du je sein wirst. Aber sobald sie den Mund auf­machen, hört man an ihren Gesprächen: Es sind noch Kinder.

Hier geht es so wenig um Sex wie vorher um Gewalt. Son­dern um etwas anderes: Sie haben ein paar Effek­te ent­deckt, die sie ein­set­zen müssen, damit ser­iöse Her­ren Würde und Autorität ver­lieren. Während sie ihre Augen auf dem Fuss­bo­den zusam­men­su­chen müssen.

Diese Effek­te set­zen sie dann alle gle­ichzeit­ig ein. Denn als Anfänger hat man seine Mit­tel noch nicht unter Kon­trolle. Genau so wie die anderen Mäd­chen und Jungs, die nicht mit Schön­heit punk­ten kön­nen. Son­dern mit Witz, Wel­tekel, Wut, Wahnsinn oder was immer exper­i­men­tieren. Irgend­wann bekommt jed­er vom Leben seinen Far­bkas­ten in die Hand; dann drückt fast jed­er erst mal alle Tuben gle­ichzeit­ig aus.

Ich weiss noch, mit wie viel Pio­nier­stolz ich den Auf­satz schrieb: Wie ich die Schock­ef­fek­te – das aus­gelöf­felte Auge, das Mörderba­by, das Euter – aus­pro­bierte. So geht das? Wow. Und wäre es nicht noch schock­ieren­der, wenn…

Effizienz, also Stil und Lakonie kom­men erst später. Um Schreck­en zu ver­bre­it­en, heben der Lord oder die Lady nur noch eine Augen­braue; um lasziv zu sein, genügt ihnen eine Haarsträhne im Gesicht.

Ich glaube, die klüg­ste Reak­tion des Rek­tors wäre gewe­sen: Willkom­men, liebes Kind, auf diesem Plan­eten. Aber du musst noch viel ler­nen. Sieh hin, mit etwas weniger Blut wäre dein Auf­satz noch schock­ieren­der gewe­sen.

Natür­lich sind Anfänger-Mach­w­erke schreck­lich her­z­los. Und nervtö­tend für alle. Aber eigentlich sind sie eine schöne Sache. Hier fängt jemand an zu spie­len – mit den Möglichkeit­en der Welt.

Das Rezept für einen Bech­er Gift

Lei­der dauert heute die Jugend lang. Und auch Her­zlosigkeit hält sich hart­näck­ig. Und sucht die richtige Form.

Die näch­ste Stufe gehoben­er Pubertät ist der Szene­text. Dieser hat zwei Funk­tio­nen: Die eige­nen Com­pagnons durch Radikalität zu begeis­tern. Und alle anderen Leute abzus­tossen. (Natür­lich in bester Absicht: um die igno­ran­ten Dick­häuter durch einen Fusstritt zum Denken zu brin­gen.)

Wie macht man das am effizien­testen? Bastelt man an so einem Prob­lem, dann, glaube ich, sind vier Bauprinzip­i­en sehr hil­fre­ich.

  1. Set­ze auf Jar­gon. Jar­gon wurde erfun­den, um die eige­nen Leute ein- und das Rest­pub­likum auszuschliessen.
  2. Nur: Ein Jar­gon allein genügt nicht. Weit effizien­ter bei dem Ver­such, Irri­ta­tion zu schaf­fen, ist der Mix von zwei ver­schiede­nen Jar­gons. Denn ein­er allein (etwa Rap, Wis­senschaftssprache oder der Finanzs­lang) ist berechen­bar. Also bieder. Zwei Jar­gons garantieren mehr als nur mehr Abwech­slung: mehr Missver­ständ­nisse, mehr Schärfe, mehr Schocks.
  3. Ein guter Szene­text muss die einen aufrüt­teln, die andern alarmieren. Er hat von Natur aus Man­i­festcharak­ter. Unverzicht­bar sind dabei als Ein­sprengsel Slo­gans: harte Forderun­gen und noch härtere Urteile.
  4. Aber ein richtig giftiges Gebräu entste­ht erst dann, wenn der Ironiege­halt von Satz zu Satz wech­selt. Oder zumin­d­est von Absatz zu Absatz. Also etwa wenn ansat­z­los Beken­nt­nis auf Unfug, Beobach­tung auf Trash, Plas­tik auf Philoso­phie fol­gen. Und umgekehrt. Dieses Durcheinan­derquirlen macht einen Text für seinen Leser so unvorherse­hbar wie eine Geis­ter­bahn. Und bleibt auch beim Nach­denken darüber fast unknack­bar.

Inter­es­sant wird so ein Text vor allem bei hoher Geschwindigkeit. Dri­ve ist zen­tral. Sein Nachteil, aber auch das Aben­teuer dabei ist, dass man im Schwung Dinge schreibt, von denen man nicht ein­mal geah­nt hätte, dass man sie denken würde.

Poli­tis­che Gewalt – warum nicht?

Rund 10 Jahre später ver­fasste ich eine Art Remake meines Schu­lauf­satzes. (Auch meine Jugend dauerte lang.) Es war ein Text für die «Fab­rikzeitung» zum The­ma Poli­tik und Gewalt. Wenig­stens war ich inzwis­chen ein wenig erfahren­er gewor­den. Denn dies­mal schrieb ich unter Pseu­do­nym.

Der darauf fol­gende Ärg­er vol­l­zog sich erfreulicher­weise auf pro­fes­sionellerem Lev­el. Erstens bekam ich dies­mal Hon­o­rar. Zweit­ens ärg­erte sich nicht mehr ein ein­samer Rek­tor, son­dern das Prä­sidi­alde­parte­ment der Stadt Zürich. Drit­tens vertei­digte ich mich nicht selb­st, son­dern die Zeitung bezahlte einen Anwalt. Der wies in einem Plä­doy­er nach, dass mein Werk keinen Aufruf zur Gewalt betrieb, son­dern ein wertvolles Stück kün­st­lerische Frei­heit war.

Als ich das Plä­doy­er las, war ich von mein­er eige­nen Unschuld überzeugt. Nur, zu Recht?

Klar war, dass der Text mit dem Titel «For­get Peace. Start Riot. Do Dada» es nicht fre­undlich mit unvor­bere­it­eten Lesern meinte. Denn das Essay quirlte drei Jar­gons durcheinan­der, die alles andere als gemütlich gewählt waren: Der Com­put­er­jar­gon der 80er-Jahre, eine Exk­lu­siv­ität mein­er Gen­er­a­tion. Dann den Jar­gon der RAF-Stadtgueril­la-Man­i­feste der 70er-Jahre. Plus einen Schuss neolib­erales Mark­t­vok­ab­u­lar der 90er-Jahre.

Der Text enthielt eine Menge aggres­sive Slo­gans à la «Eine Rev­o­lu­tion ohne Tote ist keine», die hinzuschreiben Spass machte. Doch der zen­trale Dreh des Textes war, dass poli­tis­che Gewalt zwar für völ­lig sinn- und fol­gen­los erk­lärt wurde. Das aber mit einem Max­i­mum an gewalt­tätigem Pathos. Etwa wie fol­gt:

Ein tot­er Schweiz­er Wirtschafts­führer oder Stän­der­at hin­ter­lässt ein Ver­mö­gen, aber keine Lücke. Es lohnt sich nicht, sie umzubrin­gen.

Natür­lich war das Zielpub­likum, das mit dem Text, der um Rev­o­lu­tion, Atten­tate, Com­put­er, Man­age­ment und Krawall ging, schock­iert wer­den sollte, nicht die fer­nen Wirtschafts­führer. Die lasen die «Fab­rikzeitung» nicht. Son­dern die unmit­tel­baren Nach­barn – in meinem Fall die Gen­er­a­tion der damals 50jährigen, der Oster­marschlinken, die zu der Zeit in alter­na­tiv­en Medi­en hoch im Kurs standen. Etwa der gutherzige Bart­träger Franz Hohler. Oder der bär­tige christlich-soziale Polizeivor­stand der Stadt Zürich, Bob­by Neukomm:

Die Franz-Hoh­lerisierung der Alter­na­tivszene, die Poli­tik durch Eso­terik, Predigt, Kleinkun­st und Ernährungslehre erset­zte, schaffte das Kun­st­stück, biedere Kon­ser­v­a­tive intellek­tuell, hip und irgend­wie clev­er­er ausse­hen zu lassen. Eine Linke, die einen Bob­by Neukomm noch als Genossen statt als poten­zielles Atten­tat­sziel betra­chtet, ist keine Linke mehr.

Im Grund ging es auch wieder darum, wie in vie­len Man­i­festen, eine völ­lig macht­lose Posi­tion entset­zlich gefährlich zu ausse­hen zu lassen. Unter vollem Ein­satz von Logik und Her­zlosigkeit.

Als Recht­fer­ti­gung für diesen Text finde ich nur einen ehrlichen Grund: Er machte grossen Spass beim Schreiben. So wie mit Knal­lkör­pern um sich zu schmeis­sen grossen Spass macht

Der Szene­text als Geschäfts­grund­lage

Aus welchen Zutat­en Szen­e­man­i­feste heute gemixt wer­den müssen? – Fragt mich nicht. Ich bin nicht mehr kom­pe­tent für aktuellen Slang. Klar ist nur, dass Szene­texte seit Anfang der Mod­erne – vom Dada über das Sur­re­al­is­tis­che Man­i­fest bis heute – ähn­lich gebaut sind.

Und dass sie noch schär­fer wer­den, wenn man sie mündlich serviert.

Der deutsche Kün­stler Jonathan Meese mis­cht etwa in hohem Tem­po den Slang von Nation­al­sozial­is­mus und Kun­st­branche. (Ein Skan­dalvideo hier.) Der Mix ist vielle­icht nicht son­der­lich sym­pa­thisch. Aber trotz­dem muss man zugeben: Wie Meese seine «Sol­dat­en der Kun­st!» marschieren lässt, ist von ein­er wilden, uner­warteten, nicht umchar­man­ten Komik.

Der Meis­ter des Szen­emonologs war der Regis­seur Christoph Schlin­gen­sief. Er hat­te alles: das Ausse­hen eines Schwiegersohnes, das Tem­po eines Maschi­nengewehrs, die Vor­liebe für Trash aller Art – vom Ket­ten­sä­gen­film bis Big Broth­er –, ein gross­es, mit­füh­len­des Herz und die Fähigkeit, lauter glasklare Sätze so aneinan­derzurei­hen, dass eine unen­twirrbare Mis­chung zwis­chen Klugheit, Gift­müll, Spott und Wahrheit dabei her­auskam.

Hier etwa ein kurzes Video seines Besuchs bei Har­ald Schmidt. Er ruhe in Frieden.

Heute, im Büro

Klar, meine Zeit ist vorüber. Längst bin ich erwach­sen. Ich trage Krawat­ten und Kleinkinder, bekomme ein Monats­ge­halt und ste­he überzeugt auf dem Boden der Ver­fas­sung. Längst inter­essiert mich Fre­undlichkeit mehr als Schreck­en – sie ist das schwierigere Prob­lem. Lese ich heute radikale Man­i­feste, hebe ich kurz die Augen­braue. Und denke: Ich kenne deine Tricks.

Aber trotz­dem, wenn ich auf eines dieser her­zlosen Mach­w­erke stosse, füh­le ich vor allem Melan­cholie. Über die Unschuld, die ich ver­loren habe.

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Artikel online veröffentlicht: 22. Mai 2013 – aktualisiert am 17. März 2019