(Von Lukas Vogelsang) – Eines gleich vorweg: Ich verurteile niemanden, denn ich bin kein Richter und ich bin nicht für Gewalt und kann Vandalismus in keiner Form verstehen und respektieren. So sind diese angeblich 70 Chaoten, die sich am „Tanz Dich frei“ vom 25. Mai 2013 mit der Polizei einen Krieg leisteten nicht in Schutz genommen oder entschuldbar. Auch ich bin der Meinung, dass diese für die Schäden gerade stehen müssen. Trotzdem habe ich einige Fragen, die mir in der gesamten Berichterstattung und während der gesamten Beobachtungszeit, unbeantwortet blieben. Ich will hier nichts schönreden und ich hoffe, dass dies auch so verstanden wird.
Da wäre einerseits die aufgebaute Kriegskommunikation Wochen im Voraus. Wie kann ein Polizeidirektor die Frage der Sicherheit in der Öffentlichkeit diskutieren? Zumindest in dieser Form? Ich werde den Eindruck nicht los, dass hier eine Überforderung und Hilflosigkeit in der ganzen Angelegenheit anstand. Da waren zum Beispiel nur eine Woche vorher die Fanmärsche der Fussballfans über die Kornhausbrücke und man sieht auf den Bildern im Internet gut, wie Feuerwerk in dieser Masse gezündet worden ist. Doch niemand schrie, dass Fluchtwege offen bleiben müssen, niemand hatte das Gefühl, dass hier etwas eskalieren könnte. Lange war es jetzt ruhig in Bern. Doch waren die Chaoten bereits mit dem Fussballwochenende präsent und haben Sachschäden verursacht. Die Polizei war also alarmiert, das Thema war aufgewärmt: Die Chaoten sind zurück und haben sich da warmgelaufen.
Für mich war bereits ziemlich fragwürdig, dass diese Fanmärsche der Fussballer bewilligt wurden, obschon eine Woche später das „Tanz Dich frei“ stattfinden würde und man eigentlich – zumindest wer einigermassen bei der Sache ist – wissen sollte, dass die Chaoten nur auf solche Anlässe warten. Eine Woche später waren diese gut organisiert und der Radau war planmässig vorbereitet. Das Ziel der Chaoten ist entsprechend aufgegangen. Niemand hat dagegen gewirkt.
Ich möchte kurz daran erinnern, dass in Stockholm bereits seit 6 Tagen Krieg zwischen den Jugendlichen und der Polizei herrschte. Also auch von da kam ein Input, der die Alarmsignale bei der Polizei unbedingt auf Deseskalation hätte stellen müssen. Die Bilder im Fernsehen rochen nach Revolution – zwei Tage vor dem Anlass wurde in Bern die Rhetorik der anonymen VeranstalterInnen militant. Ich vermute, dass Stockholm seine Wirkung zeigte. Das war aber eher zufällig und spontan – denn das „Tanz Dich frei“ war bisher immer eine harmlose Veranstaltung und ziemlich unpolitisch.
Alle Zeichen standen also im Vorfeld auf Alarm. Die Polizei warnte vor Massenpanik – nicht vor den Chaoten. Die Warnung, nicht an das „Tanz Dich frei“ zu gehen, war nicht wegen Tränengas, Steinwürfen und Polizeieinsätzen, sondern wegen Massenpanik und fehlenden Fluchtwegen. Irgendwie – wenn ich mir das so überlege – eigentlich eine totale Fehlinformation, die fatal hätte enden können. Die Choaten sind immer eine Minderheit. Gefährlich wäre es gewesen, wenn diese in der Masse gewesen wären — allerdings ist das praktisch nie der Fall.
Meine grössten Fragezeichen aber setze ich am Anlass selber. Da startet der Soundmobil-Tross ab 20:00 Uhr und 3 Stunden lang beobachtet man das Scharmützel der Chaoten, welche sich VOR dem eigentlichen Demo-Umzug ziemlich aktiv bemerkbar machen und sich abgesondert haben. Die Masse ist kein Schutzschild, wie das oft erwähnt wird. Diese Chaoten nehmen nur den Anlass selber als Eintrittskarte, um „ihre“ Stadt zu verunsichern. Sie sind nicht Teil von „Tanz Dich frei“ — sie nehmen nicht die Stadt ein, den Raum – so wie der Demo-Umzug –, sondern sie randalieren, spielen mit Feuerwerk und erklimmen Gebäude. Die Chaoten machen ganz einfach auf sich aufmerksam. Man lässt sie gewähren – niemand ist da um einzuschreiten. Erst als man beim Bundesplatz ankommt, ist die Polizei omnipräsent. Einerseits ist da eine lächerliche Absperrung, die locker weggetragen wird. Andererseits hat die Polizei eine Null-Toleranz vor dem Bundeshaus verordnet, einer Passage, die viel zu markant durch den hohen Sicherheitszaun verengt wurde. Hier wird alles von der Polizei sofort, klar und deutlich abgewehrt. Nulltoleranz eben. Meine zentrale Frage aber ist: Was hat die Polizei während der ersten 3 Stunden gemacht? Man hat die Hunde frei laufen lassen und gewartet, bis sie so aufgedreht und überdreht sind, dass es unwillkürlich beim Zusammenprall mit der Polizei eskalierte. Es war klar, dass die Chaoten zubeissen werden. Warum hat hier niemand während der Wartezeit das Konzept geändert? Tränengas stand bereit, der Helikopter war vorbereitet, alles war auf Eskalation eingestimmt. – Niemand auf Deseskalation.
Da sich diese Chaos-Trupp wunderbar VOR der Masse bewegte, hätte man diese fast geschlossen isolieren können. Ich meine, es waren ca. 70 Personen, welche die Sicherheit von ca. 7‘000 friedlichen Personen aufs Spiel setzten. Die Polizei wehrte sich gegen die Chaoten wie im Burg-Zeitalter, hinter Mauern und schoss aus Schiessscharten – so zumindest im Beginn. Dies wirkt provokativ und reizt die ungeschützt auf der Strasse stehenden Chaoten. Klar, dass diese reagierten. Ist das zu viel Psychologie für die Polizei? DAS gibt mir zu denken.
Damit will ich in keiner Weise die Chaoten in Schutz nehmen. Meine Fragen sollen nur helfen, den Polizeieinsatz oder die Berner-Konfliktfähigkeit zu überdenken. Und es ist absolut korrekt, dass die VeranstalterInnen, wie die Fanclubs eine Woche zuvor ebenso, zu Rechenschaft gezogen werden müssen. Ich finde es auch nicht gut, dass die VeranstalterInnen von „Tanz Dich frei“ sich anonym verhalten. Ich kann mir einigermassen vorstellen, weshalb sie diesen Weg gewählt haben. Aber gut finde ich das nicht.
Total übermässig jedoch finde ich die allgemeinen Reaktionen. Die Presse ist seit Wochen und seit zwei Tagen übermässig mit dem Thema beschäftigt. In Zürich kommt so ein Scharmützel öfters vor, und dabei geht auch gern mal ein Ferrari zu Bruch. Aber deswegen gibt es nicht so ein Geschrei. Sind wir in Bern einfach konfliktunfähig? Sind wir in Bern am Wochenende aus einem Dornröschenschlaf aufgewacht? Seit vielen Jahren hat man hier kein Tränengas mehr gerochen. Es ist ruhig geworden in Bern. Laute Stimmen sind nicht willkommen. Man hat vor vielen Jahren das „Berner Jugendfest“ weggespart und der Jugend fast jeden Platz weggenommen und will weiterhin über die Reitschule diskutieren. Die Schützematt soll „zivilisiert“ werden. Fast alles wird politisch und von Ämtern beherrscht – kaum ein Platz, der nicht „verstaatlicht“ wurde. Dass wir damit eine Ohnmacht aufbauen, die einigen Menschen unangenehm ist, wird nicht mehr diskutiert. Die Kultursekretärin von Bern meint ja, dass die Menschen die Stadt selber in Beschlag nehmen. Wirklich? Ist dem so?
Vielleicht hat diese Wochenende, neben den Schuldfragen, doch auch noch die eine oder andere Idee von öffentlichem Raum und Fragen zu unserer Gesellschaft hinterlassen. Wenn nicht, dann wäre dies ein ganz erbärmliches Zeichen. Aber für uns alle.