Über Leben

Welche Art Eltern wollen wir sein? Wir stellen uns diese grosse Frage oft erst dann wirk­lich, wenn wir nicht mehr anders kön­nen – als wer­dende Väter oder Müt­ter. Eigentlich ist sie aber eine der zen­tral­sten in unserem Leben, denn die Über­legun­gen dahin­ter zeigen, wie wir uns sehen, wie wir sind, wie wir sein wollen und worüber wir uns definieren. Im Film «Short Term 12» muss sich Grace (Brie Lar­son) mit dieser Frage auseinan­der­set­zen, als sie von ihrem Fre­und Mar­son (John Gal­lagher Jr.) schwanger wird. Für Grace ist hier aber mehr dahin­ter als die Frage, welche Art Mut­ter sie sein will. Denn obwohl sie tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen zusam­me­nar­beit­et ist der Gedanke an eigene Kinder für Grace etwas, das ihr Mühe bere­it­et.

«Short Term 12» ist der Name des Wohn­heims, in dem Grace, unter anderem zusam­men mit Mar­son, als Betreuerin arbeit­et. Eine Art Auf­fangsta­tion für Kinder und Jugendliche mit ein­er schw­eren Ver­gan­gen­heit. Hier kön­nen sie bis zu ihrem 18. Leben­s­jahr bleiben. Dass diese Arbeit nicht nur psy­chisch, son­dern auch kör­per­lich absorbierend ist, wird in ein­er der ersten Szenen deut­lich: Die Mitar­beit­er ste­hen zusam­men während ein­er Pause vor dem Wohn­heim, als Sam­my (Alex Col­loway) aus der Tür geschossen kommt, worauf ihn die Betreuer über den Rasen jagen und ihn schliesslich, zu Boden gedrückt, beruhi­gen kön­nen. Hier wird klar: Jed­er im Short Term 12 hat seine ganz eige­nen Prob­leme.

Wir erleben Grace während ihrer Arbeit als sehr gefasst und organ­isiert, als «Boss» des Wohn­heims. Diese Fas­sade begin­nt zu bröck­eln, als Jay­den (Kait­lyn Dev­er) neu ins Wohn­heim kommt. Der schw­er zugängliche Teenag­er blockt von Anfang an jeden Kon­takt zu den anderen Kids und zu den Betreuern kom­plett ab, im Wis­sen, dass sie sowieso nicht lange hier bleiben wird. Schliesslich war es in den Wohn­heimen und Anstal­ten vorher nicht anders. Ab hier erleben wir eine Verän­derung von Grace: Sie ver­sucht, Jay­dens Schale zu knack­en, ihr eine Fre­undin zu wer­den, wie sie es für die anderen Kinder bere­its ist. Und erken­nt dabei, wie viel von Jay­dens Geschichte ihre eigene ist. Grace fällt es zunehmend schw­er­er, den nöti­gen emo­tionalen Abstand zu Jay­den zu hal­ten und zwis­chen den bei­den entwick­elt sich schliesslich eine Fre­und­schaft, die manch­mal sog­ar ohne Worte funk­tion­iert.

So sehr sich Grace gegenüber Jay­den öff­nen kann, so ver­schlossen ist sie ihrem Fre­und gegenüber. Mar­son hat sel­ber eine bewegte Geschichte und wuchs als Adop­tiv­sohn in ein­er grossen, liebevollen Fam­i­lie auf. Er gibt sich alle Mühe, sein­er Fre­undin mit Ver­ständ­nis und Rück­sicht gegenüber zu treten, doch auch er stösst an seine Gren­zen – weil ihm Grace auch nach zwei Jahren Beziehung nicht alles über ihre Ver­gange­heit erzählen kann. Je tiefer die Fre­und­schaft mit Jay­den wird, umso mehr find­et Grace den Zugang zu ihrer eige­nen Ver­gan­gen­heit. Etwa wenn Jay­den Grace eine selb­st geschriebene Kindergeschichte vor­li­est, von Nina dem Tin­ten­fis­chmäd­chen, das von einem bösen Hai aufge­fressen wird, weil es sein Fre­und sein wollte. In dieser Schlüs­sel­szene brechen Graces Dämme ent­gültig und uns wird klar, welche Ver­gangheit Grace quält. Die entügltige Auflö­sung liefert der Film in ein­er Szene, in der Grace den Anruf erhält, dass ihr Vater aus dem Gefängis ent­lassen wird – diese Nachricht zieht ihr den Boden unter den Füssen weg. Und Mar­son ver­ste­ht endlich. Warum Grace ihn beim Vor­spiel plöt­zlich ohrfeigt und nicht weit­er machen kann. Warum sie sein Baby nicht behal­ten kann und ins­ge­heim schon direkt nach dem pos­i­tiv­en Test beim Fraue­narzt einen Ter­min für die Abtrei­bung gemacht hat. Und warum sie vor Jahren bere­its eine Abrei­bung hat durch­führen lassen.

Nach der Nachricht über die Freilas­sung ihres Vaters gelingt es Grace nicht mehr, eine Gren­ze zwis­chen ihrer und Jay­dens Geschichte zu ziehen und sie über­schre­it­et ihre Gren­zen als Betreuerin endgültig. Es gelingt ihr schliesslich, Jay­den zu ein­er polizeilichen Aus­sage zu brin­gen und sie so von ihrem Vater wegzu­holen. Dass der Teeanger den Kampf gegen den väter­lichen Miss­brauch aufn­immt, macht Grace neuen Mut und zeigt ihr, wie wichtig es ist, sich nicht von sein­er Ver­gan­gen­heit kaputt machen zu lassen. «Short Term 12» lässt den Zuschauer herzhaft lachen und bit­ter­lich weinen. Manche Kids im Wohn­heim haben in ihrem jun­gen Alter schon mehr Leid erlebt als ein ganzes Leben ertra­gen kann. Der Film lebt vor allem durch die Schaus­piel­er, die über­wälti­gende Arbeit leis­ten. Etwa Kei­th Stan­fields ein­drück­liche Inter­pre­ta­tion von Mar­cus, einem unnah­baren Teeanger, der das Heim auf­grund sein­er bevorste­hen­den Volljährigkeit ver­lassen muss. Es gibt eine Szene im Film, in der Mar­cus mit Mar­son auf seinem Bett sitzt und ihm sein neustes Rap­stück zeigt. Der Text ist der­masen ehrlich, trau­rig und ver­störend, dass man als Zuschauer mit den Trä­nen kämpft. Kei­th Stan­field lässt die Trau­rigkeit in Mar­cus’ Augen zur eige­nen wer­den.

«Short Term 12» von Des­tin Cret­ton ist kein typ­is­ch­er Film über die Prob­leme von Mittzwanzigern. Er ist auch kein moralis­ch­er Zeigefin­ger, son­dern zeigt uns grosse Fra­gen des Lebens: Heilen die Wun­den der Ver­gan­gen­heit jemals vol­lkom­men? Kann man jenen helfen, mit denen man zu sehr mitlei­det? Und der Film lehrt uns, dass wir wohl niemals unser­er Ver­gange­heit entkom­men kön­nen, sehr wohl aber unsere Zukun­ft in der Hand haben. Mit der The­matik des Erwach­sen­wer­dens, des Miss­brauchs durch Väter und das Find­en des eige­nen Ichs bringt «Short Term 12« gewiss keine neuen Ideen auf die Lein­wand. Auch die Sto­ry­line lässt an eini­gen Stellen zu wün­schen übrig, etwa wird die Fig­ur des Tee­niemäd­chens Jay­den etwas zu schnell einge­führt, wer­den die restlichen Charak­teren etwas zu schnell mit ihr ver­traut. Alles in allem lässt “Short Term 12″ aber die Gen­er­a­tion der doch immer etwas ver­lore­nen Twen­tysome­things (ein­mal mehr) reflek­tieren und die eige­nen Prob­leme in Kon­text set­zen. Etwa, dass das mit dem Erwach­sen­wer­den doch gar nicht so schlimm ist. Dass es Schick­sale gibt, die schlim­mer sind als ein Minus auf dem Kon­to. Und dass wir mit dem richti­gen Back­ground min­destens so viel Liebe zurück bekom­men, wie wir geben.

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Artikel online veröffentlicht: 25. August 2013 – aktualisiert am 17. März 2019