Die Opulenz implodiert – Der «Neo-Giallo» ist da

Das Regis­seuren-Duo Hélène Cat­tet und Bruno Forzani erfind­en in «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» das Kult­genre «Gial­lo» neu. Der Film ist eine avant­gardis­tis­che Fort­set­zung des ital­ienis­chen Thrillers und geht tech­nisch bis an die Schmerz­gren­ze, dabei rückt der Plot in den Hin­ter­grund. Trotz­dem ist ihr Konzept aus heutiger Sicht aufge­gan­gen.

Kalei­doskopis­che Drehun­gen, schnelle Schnitte, Rück­blenden, Vor­blenden, Schreie, Per­spek­tiven­wech­sel, Sex und Sire­nen. Der Zuschauer muss sich konzen­tri­eren, nicht den Faden zu ver­lieren, vor der Fülle zu kapit­ulieren und raus in die Real­ität zu flücht­en. Für Fans des Kult­gen­res «Gial­lo» mag «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» (Englisch «The Strange Col­or Of Your Body’s Tears») ein einzi­gar­tiges Schmuck­stück sein. Für andere bleibt der gewaltige Film rät­sel­haft.

Die Reizüber­flu­tung löst die Sto­ry auf

Die Geschichte des Filmes ist kom­pliziert. Dan (Klaus Tange), der von ein­er Geschäft­sreise nach Hause kommt, stellt fest, dass seine Frau Edwige ver­schwun­den ist. Der Name der Fig­ur ist zweifel­los eine Hom­mage an die Schaus­pielerin Edwige Fenech, die mit «Lo stra­no vizio del­la sig­no­ra Wardh» (1971) Kult­sta­tus erre­ichte. Auf der Suche nach Edwige begeg­net Dan in seinem Haus mehreren kuriosen Gestal­ten. Hat jemand Edwige umge­bracht? Wer weiss mehr über ihr Ver­schwinden? Woher kom­men die Stim­men hin­ter den Wän­den? Ein Pri­vat­de­tek­tiv (Sam Louwyk) soll die Sache richt­en.

Die Suche ist für das Pub­likum mys­ter­iös und schmerzvoll. Zum Beispiel wenn Dan auf­ste­ht, weil es klin­gelt. Eine banale Szene, die Cat­tet und Fon­zani gnaden­los aus­reizen. Das Klin­geln ist nicht etwa eine nor­male Türklin­gel, son­dern ein lauter Buzzer. Vor der Türe sieht Dan sich selb­st, er bit­tet sich um Ein­lass. Die Szene wieder­holt sich traumähn­lich immer wieder, immer wieder. Diese Angst, dieser Buzzer, diese Far­ben, das Blut, das Led­er, die Nar­ben, der Kopf von Edwige im Bett, die rät­sel­hafte Frau im roten Kleid, die Stim­men hin­ter der Wand und wieder diese Angst und wer zur Hölle ist Lau­ra?

Neb­st dem insze­nierten Über­druss zieht sich ein Motiv sich durch den ganzen Film: Die Frauen­fig­uren und Opfer haben alle­samt braune, lange Haare. Das führt mitunter zu Ver­wech­slun­gen, die Frauen sehen sich durch die schnellen Schnitte und der nicht lin­earen Erzählweise alle ähn­lich. Das Haar ist intimes Objekt der Begierde. Die raf­finierten Jugend­stil-Zeich­nun­gen an den geheimnissvollen Wän­den in Dans Haus unter­stützen dieses Frauen­bild fort­laufend. Jean Renoir hat bere­its 1926 in «Nanà» dem Frauen­haar im Film zum ersten Mal vielfältige Bedeu­tun­gen zugemessen. Ihm fol­gten Luis Bunuel («Ein andalu­sis­che Hund»), Igmar Bergmann («Moni­ka») und Jean-Luc Godard («Une femme mar­iée»), die sich im Laufe ihrer Kar­riere als Lieb­haber der weib­lichen Haarpracht out­eten.

Die «Giallo»-Anleitung

Schon bei ihrem Erstling «Amer» aus dem Jahr 2009 haben sich die Fre­unde Hélène Cat­tet und Bruno Forzani aus Brüs­sel an das ital­ienis­che Kino der 60er und 70er angelehnt. Genauer an ein Sub­genre des Thrillers, an den «Gial­lo».
Für einen richti­gen «Gial­lo» gibt es mehrere dra­matur­gis­che und gestal­ter­ische Codes: Knal­lige Far­ben sind ein Muss, die Erotik ist expliz­it, die Sound­ef­fek­te schrill, der Mörder trägt einen Hut und schwarze Led­er­schuhe und die weib­lichen Opfer sind schön und jung. The­men wie Para­noia und Ent­frem­dung ziehen sich durch.

Als erster «Gial­lo» gilt heute «The Girl Who Knew Too Much» (1963) von Mario Bava, der auf Alfred Hitch­cocks «The Man Who Knew Too Much» (1956) basiert. Regis­seure wie Bava, Dario Argen­to oder Umber­to Lenzi bezo­gen sich in ihren Werken meist auf grosse Lit­er­aturk­las­sik­er von Agatha Christie, Ed McBrain oder Edgar Wal­lace. Sie legten mit ihren Pro­duk­tio­nen den Grund­stein für spätere Slash­er­filme wie «Scream» oder «I Know What You Did Last Sum­mer», die in den 90ern grosse Erfolge feierten. Cat­tet und Forzani haben vierzig Jahre später den «Gial­lo» aus der Versenkung geholt. Die Arbeit zu «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» hat neun Jahre gedauert.

Exper­i­ment gelun­gen, Span­nung dahin

Die grosse Ära des «Gial­lo» ist jedoch vor­bei. Das kön­nen auch Cat­tet und Fon­zani mit ihrem ambi­tion­ierten Ver­such nicht ändern. Ihre Ästhetik nimmt den Charme und die Beschei­den­heit von damals nicht au und das Wort Ner­venkitzel haben sie zu wörtlich genom­men. Der Über­druss an visuellen und akustis­chen Ein­flüssen geht nicht nur auf Kosten der Geschichte, son­dern macht aus ero­tis­chen Szenen ster­ile Ein­blicke in die Vorge­hensweise des Mörders. Wenn die Klinge über die Brust­warze streift und dabei jede Berührung zu hören ist, ver­wahrlost die Fan­tasie. Die früheren «Gial­li» sind zurück­hal­tender und lassen den Gedanken mehr Spiel­raum, sind darum let­z­tendlich auch ein wenig grus­liger. Die Sto­ry ver­liert durch die per­ma­nente Reizung der Sinne an Span­nung und Rel­e­vanz.

Die Architek­tur der Räume in der sich der Film bewegt (und das sind wenige) ist jedoch her­aus­ra­gend! Zwis­chen blink­end grü­nen, roten, blauen und gel­ben Farb­bildern fungiert das imposante Art-Déco Haus und die kun­stvoll tapezierten Wände als Auf­fang­beck­en für visuell erschöpften Zuschauer.

Die Erin­nerun­gen an den Kinobe­such sind auf­grund der Schnel­ligkeit des Werkes frag­men­tal. Er ist eine Her­aus­forderung und das macht ihn inter­es­sant. Doch der Inhalt ver­liert an Bedeu­tung, das ist schade, denn wirk­liche Span­nung kommt nicht auf. Weniger ist mehr, möchte man sagen. Das wäre aber nicht im Sinne des «Neo-Gial­lo». «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» ist schnell, bunt, über­trieben, laut und spiegelt im Jahr 2013 das Genre somit zeit­gemäss wieder.

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Artikel online veröffentlicht: 17. August 2013 – aktualisiert am 17. März 2019