Zärtliches Entfesseln in ¡Átame!

Am Film­fes­ti­val Locarno wurde die Schaus­pielerin Vic­to­ria Abril auf der Piaz­za Grande mit einem „Excel­lence Award Moët & Chan­don“ aus­geze­ich­net. In diesem Zusam­men­hang zeigte das Fes­ti­val Pedro Almod­ó­vars ¡Átame!, in dem Abril die Haup­trol­le der Porn­odarstel­lerin Mari­na spielt. Der Film wurde 1990 kon­tro­vers disku­tiert und brachte Almod­ó­var unter anderem den Vor­wurf der Frauen­feindlichkeit ein.

Mari­na (Vic­to­ria Abril) ist Porn­odarstel­lerin und hat soeben ihren let­zten Tag am Set hin­ter sich gebracht. Am sel­ben Tag wird Ricky (Anto­nio Ban­deras) aus der psy­chi­a­trischen Anstalt ent­lassen und sucht Mari­na, mit der er ein Jahr zuvor schon ein­mal Sex hat­te, in ihrer Woh­nung auf. Er will sie davon überzeu­gen, ihn zu heirat­en. Mari­na zeigt sich wider­spen­stig und so fes­selt Ricky sie ans Bett, überzeugt davon, dass es nur seine Zeit brauche, bis sie dazu bere­it ist. Er sollte Recht behal­ten.

¡Átame! heisst der Film von Pedro Almod­ó­var, der ihm 1990, nach sein­er Pre­miere auf den Berlin­er Film­fest­spie­len, den Vor­wurf der Gewaltver­her­rlichung und Frauen­feindlichkeit ein­brachte. Almod­ó­var wurde in Berlin aus­ge­buht und in der fem­i­nis­tis­chen Presse als Macho beze­ich­net. Bess­er erg­ing es ihm in sein­er Heimat Spanien. ¡Átame! kon­nte da an die Erfolge sein­er vor­ange­hen­den Filme La ley del deseo (1987) sowie Mujeres al bor­de de un ataque de nervios (1988) anknüpfen. Die spanis­che Presse feierte ¡Átame! als „zärtliche Liebesgeschichte“.

Fes­seln und Früh­stück am Bett
Der Filmti­tel mag danach klin­gen, doch ¡Átame! (dt. Fessle mich!) ist in kein­er Weise ein sado­masochis­tis­ch­er Film. Im Gegen­teil: Ricky macht es ganz offen­sichtlich keinen Spass Mari­na an Hän­den und Füssen zu fes­seln. Und als sie ihm zu ver­ste­hen gibt, dass das Pflaster, mit dem er jew­eils ihren Mund verklebt, beim Ablösen schmerzt, besorgt er ihr ein anderes, das er zuvor an sich selb­st testet. Und er befre­it sie im Schlaf von den Fes­seln, zärtlich, um sie nicht aufzuweck­en. Ricky ist stets ver­sucht, Mari­na ihre Gefan­gen­schaft so „angenehm“ wie möglich zu gestal­ten. Als sie sich umzieht und sie ihm harsch befiehlt, es solle sich umdrehen, tut er es beschämt und entschuldigt sich. Er bringt ihr das Früh­stück ans Bett. Er beg­ibt sich in Gefahr, um ihr Dro­gen gegen ihre Zahn­schmerzen zu besor­gen, als die nor­malen Medika­mente nichts nützen. Und er weint ver­let­zt, als sie ihn zurück­weist.

Almod­ó­var spielt auf para­doxe Weise mit der Grund­si­t­u­a­tion eines Psy­chodra­mas: Ein Ver­rück­ter hegt die Vorstel­lung, die Liebe ein­er Frau erzwin­gen zu kön­nen. Doch dann ent­pup­pt sich der ver­meintlich Ver­rück­te als naiv, kindlich und nicht wirk­lich bedrohlich. Ricky verkör­pert den bek­lem­menden Zus­tand des Lieben­den, der unsich­er ist, ob der (die) andere seine Gefüh­le richtig ver­ste­ht. Almod­ó­var spricht mit viel Ironie über den Wun­sch eines „nor­malen“, klein­bürg­er­lichen Lebens mit Fam­i­lie, Job, Garten und Auto. ¡Átame! beschreibt damit einen kon­ven­tionellen Wun­sch an einem gle­ichzeit­ig unkon­ven­tionellen und fast schon absur­den Beispiel. Doch genau im Para­dox liegt die Komik des Werks.

Von Porno keine Spur
Gewaltver­her­rlichung, Pornografie, Frauen­feindlichkeit – ver­nich­t­ende Vor­würfe, denen sich Almod­ó­var aus­set­zen musste. Dies beson­ders deshalb, weil der Regis­seur mit ¡Átame! ja genau das Gegen­teil bewirken wollte. Die schöne Szene, als Mari­na und Ricky zum ersten Mal miteinan­der schlafen, ist alles andere als pornografisch insze­niert. Die Kam­era filmt die Darsteller, von ein­er Nahe­in­stel­lung abge­se­hen, haupt­säch­lich in Grossauf­nah­men. Ricky und Mari­na sind immer gemein­sam im Bild, nie wird jene voyeuris­tis­che Per­spek­tive des Mannes ein­genom­men, die man dem Regis­seur vorge­wor­fen hat. Die Lust sieht der Zuschauer hinge­gen in den Gesichtern, und die Liebesszene wirkt natür­lich, zärtlich und fröh­lich. Die bei­den schlafen erst miteinan­der, als bei­de es wollen und bei­de erleben den Akt sehr bewusst. Die dominierende Rolle während dem Geschlechtsverkehr übern­immt schliesslich ganz klar: Mari­na.

In dieser und weit­eren Szenen in ¡Átame! (und in zahlre­ichen anderen Almod­ó­var-Fil­men) wird Almod­ó­vars Frauen­bild und sein Ver­hält­nis zu Frauen ger­adezu offen­sichtlich. Sie sind für ihn keine Objek­te der visuellen und kör­per­lichen Begierde, vielmehr Sub­jek­te der Iden­ti­fizierung zu denen er eine tiefe und ehrliche Beziehung sucht. Er erken­nt sich in ihnen wieder, und er inter­essiert sich für sie, weil er sich so auch mit sich selb­st auseinan­der­set­zen kann. Auf­grund dieses Inter­ess­es kam auch die Zusam­me­nar­beit von Vic­to­ria Abril und Pedro Almod­ó­var in ¡Átame! zus­tande. Er war fasziniert von der „dun­klen Seite“ der Schaus­pielerin und sie erschien ihm durch ihre „innere Heftigkeit“ ide­al für die Rolle. Vic­to­ria Abril hat Almod­ó­vars Filme zu Beginn der 90er Jahre entschei­dend geprägt.

Frauen spie­len starke Rollen
Frauen verkör­pern in vie­len Werken Almod­ó­vars ein starkes Rol­len­bild und zeich­nen sich oft nicht (nur) durch ihre Schön­heit, son­dern durch eine teils fast groteske Charak­ter­is­tik aus. Schaus­pielerin Rossy de Pal­ma zum Beispiel, die in ¡Átame! eine bru­tale Dro­gen­deal­erin spielt, hat mit ihrer markan­ten Nase, den dun­klen Augen und ihrem unver­gle­ich­baren Gesicht­saus­druck eine unheim­lich starke Lein­wand­präsenz.

Car­men Mau­ra, Rossy de Pal­ma, Pene­lope Cruz und Vic­to­ria Abril: Mit vie­len Schaus­pielerin­nen hat Almod­ó­var für mehr als einen Film zusam­mengear­beit­et. Dadurch rückt er die Schaus­pielkun­st der Frauen, die höchst unter­schiedliche Rollen zu inter­pretieren haben, in den Vorder­grund. Und oft ist die Selb­st­be­haup­tung vor dem männlichen Blick The­ma der weib­lichen Charak­tere. Den Män­nern hinge­gen wird in Almod­ó­vars Fil­men sel­ten eine sub­jek­tive Sicht eingeräumt.

Der Bruch mit dem Märchen
Am Schluss von ¡Átame! sitzt Ricky ver­loren mit seinem Walk­man auf ein­er Burg, inmit­ten der Trüm­mer seines Heima­torts. Mari­na und ihre Schwest­er Lola brausen im Auto her­an, und Mari­na ren­nt die Trep­pen zu Ricky empor. Die Prinzessin im blu­mi­gen Klei­d­chen fällt ihrem Prinzen in die Arme und erlöst ihn. Damit wird sie gle­ichzeit­ig zur Rit­terin und Heldin und Ricky zum Geretteten. Almod­ó­var ent­pup­pt sich damit ein­mal mehr als Meis­ter im Auf­brechen von (Geschlechter-)Konventionen, wie sie uns beispiel­sweise aus dem Märchen geläu­fig sind. Und in der let­zten Ein­stel­lung erfährt das märchen­hafte Hap­py End seinen iro­nis­chen Höhep­unkt: Lola als Fam­i­lienober­haupt nimmt Ricky offiziell in der Fam­i­lie auf, und die drei fahren im roten Auto sin­gend dem Son­nenun­ter­gang ent­ge­gen.

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Artikel online veröffentlicht: 23. August 2013 – aktualisiert am 17. März 2019