Julia dreht am Fokus

Ama­teur-Videoauf­nah­men zeigen ein junges Mäd­chen in der Natur, das fröh­lich mit dem Ball spielt. Es scheint eine unbeschw­erte Kind­heit zu haben. Kurz wird die Stim­mung aber getrübt, als der Kam­era­mann einem schwarzen Jun­gen befiehlt, aus dem Bild zu gehen. Eine Ein­stel­lung später sieht man das Mäd­chen beim Füt­tern der Fis­che. Es wirkt nach­den­klich und sagt plöt­zlich in die Kam­era, dass es nicht mehr gefilmt wer­den möchte. Der filmis­che Vorspann etabliert die Rollen des Abends: Auf der einen Seite die wohlbe­hütete Julia, auf der anderen Seite Jel­son, der Sohn eines Bedi­en­steten.

Julia und Jel­son heis­sen im Orig­inal­text von August Strind­berg Fräulein Julie und Jean. Das 1888 geschriebene Kam­mer­stück «Fräulein Julie» ver­han­delt Liebe, Macht­po­si­tio­nen und Klasse­nun­ter­schiede. Regis­seurin Chris­tiane Jatahy lässt das Stück statt in Schwe­den im heuti­gen Brasilien spie­len, in welchem die Unter­schiede zwis­chen Arm und Reich auch nach dem Ende der Kolo­nialzeit nach wie vor beste­hen. Wie bei Strind­berg ver­führt Julia Jel­son während eines Festes der Belegschaft. Und wie bei Strind­berg geschieht, was nicht geschehen darf.

Raf­finierte Mul­ti­me­di­al­ität

Chris­tiane Jatahy zieht alle Reg­is­ter der medi­alen Ver­mis­chung von Film und The­ater. Zwei Lein­wände dienen sowohl als Pro­jek­tions­fläche wie auch als Vorhang, der Ein­blicke gibt in die Drehorte des Stücks. Live-Videoauf­nah­men und vor­pro­duzierte Filme ver­mis­chen sich mit dem Schaus­piel der zwei Hauptcharak­tere. Das Fest der Belegschaft erleben wir auf der Lein­wand, während eine Hecke live im Büh­nen­raum als Kulisse ste­ht und es so ermöglicht, dass die Schaus­piel­er mit dem Film inter­agieren kön­nen. Ganz neue Ein­drücke schafft die Live-Kam­era, die ein­er­seits immer wieder Gegen­per­spek­tiv­en ermöglicht, es aber auch schafft, Emo­tio­nen zu ver­stärken. Die Sexszene beispiel­sweise find­et hin­ter der Lein­wand statt, per Kam­era ist der Zuschauer den­noch live dabei. Das schafft immer wieder voyeuris­tis­che Momente und lässt auch über die Stärken der unter­schiedlichen Medi­en nach­denken. Die Kam­era kann, wozu das wan­dernde Auge des The­aterzuschauers sel­ten in der Lage ist: Sie fokussiert und blendet aus. Nähe und Zärtlichkeit wirken durch das Auge der Kam­era viel stärk­er.

Macht der Moral, Macht des Standes und Macht der Kam­era

Was im Spiel begann, entwick­elt sich zwis­chen Julia und Jel­son zu ein­er todern­sten Angele­gen­heit. Sie befind­en sich in ein­er verzwick­ten Lage. Was wird passieren, wenn Julias Vater von der Affäre erfährt? Während sie ihre Flucht vor­bere­it­en, wech­seln die Gefüh­le der bei­den zueinan­der von Liebe zu Hass hin und her. Die bei­den kämpfen um die Ober­hand. Mal ist es Julia wegen ihres Standes, dann wieder Jel­son, der Julia moralisch und auf­grund sein­er Männlichkeit über­legen scheint. Als weit­ere Instanz auf der Bühne ist der Kam­era­mann präsent, der immer wieder Anweisun­gen gibt: „Schnitt“, „Action“. Die Kam­era nimmt die Rolle des abwe­senden aber omnipräsen­ten Vaters ein. Im Orig­i­nal von Strind­berg wird er durch seine auf der Bühne liegen­den Hand­schuhe und Stiefel repräsen­tiert.

Die vierte Wand fällt

Chris­tiane Jatahy scheint ihren eige­nen Mit­teln dann doch nicht zu ver­trauen. Sie insze­niert einen Bruch mit der bish­eri­gen Ästhetik. Als Jel­son den Wellen­sit­tich von Julia tötet, um bei ihrer Reise wenig Bal­last dabei zu haben, fällt die Schaus­pielerin, die Julia verkör­pert, aus der Rolle. «Did you see this?» ruft sie ins Pub­likum. Dann ver­lässt sie den Spielort und nimmt ein Bad im Zürich­see. Die Kam­era fol­gt und der Darsteller von Jel­son kann sie schliesslich zum weit­er­spie­len bewe­gen. Patschnass macht sie als Julia weit­er, fällt aber bis zum Ende noch einige Male aus der Rolle. Jatahy insze­niert so nicht nur den Kon­flikt von Julia und Jel­son, die gefan­gen in ihren Gesellschaft­srollen sind, son­dern auch jene der Schaus­pielerin, die etwas spielt, was sie vielle­icht gar nicht will. Das ist eine schöne Idee, wird jedoch auf eine solch plumpe Art gemacht, dass sie nicht wirkt. Tief­punkt ist der Moment, in welchem Julia ins Pub­likum schaut und auf englisch verkün­det, dass die Dar­bi­etung vor­bei sei. Das Pub­likum begin­nt zu klatschen, doch einen Moment später wird das Stück dann doch fort­ge­set­zt.

Im Vor­wort zu Fräulein Julie schreibt August Strind­berg, dass er den Men­schen der Zukun­ft als «so aufgek­lärt» erwarte, dass er die «unzu­ver­läs­si­gen Gedanken­maschi­nen, welche Gefüh­le genan­nt wer­den» abgelegt haben werde. Diese trübten die Urteil­skraft. Jatahy scheint das Ende des Abends für ein solch­es zukün­ftiges Pub­likum zu insze­nieren. Die Bilder und die Emo­tion­al­ität, welche sie in der knap­pen Stunde davor mit Film und Schaus­piel erzeugt hat, lassen aber nicht kalt.

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Artikel online veröffentlicht: 27. August 2013 – aktualisiert am 17. März 2019