Film und Realität – die Entscheide der Jurys in Locarno

Was die Sphinx im antiken Theben, sind im August jew­eils die Entschei­de der Jurys in Locarno: ein Rät­sel! – Welche Kri­te­rien legt wer woher warum an die prämierten Filme? – Enträt­seln wir die Wirk­lichkeit des Unwirk­lichen und das Irreale des Realen, dann lan­den wir im ganz nor­malen Wahnsinn.

Beispiel­sweise fahren wir in Man­aka­mana (Regie: Stephanie Spray/Pacho Velez, USA, Nepal 2013), Gewin­ner des Gold­e­nen Leop­ar­den für Zeit­genös­sis­che Film­schaf­fende (Cineasti del Pre­sente), mit ein­er Gondel auf einen Tem­pel­berg in Nepal – in Realzeit! – Bei ein­er Film­länge von 118 Minuten und ein­er Fahrzeit um 11 Minuten sind das wohl 11 Fahrten mit wech­sel­nden Pas­sagieren – stille, aber auch mehrsil­bige Men­schen, gar Ziegen. Manche ver­har­ren, fix­iert auf ihre Gedanken. Ist es die Sorge um einen Ange­höri­gen? Wofür frau Blu­men hin­auf zum Tem­pel bringt. Zunächst ist man gen­ervt: Kino, da nichts geschieht, stiehlt doch nur Zeit, liefert keine Hand­lung, keine Geschichte. Das bewegte Bild als Errun­gen­schaft des Films, gefriert wieder zur Porträt­fo­tografie. Als sässe man wie die grossen Doku­men­taris­ten August Sander oder Dorothea Lange vor dem «ein­fachen» Volk: Alt und Jung, laut und stumm. – Nicht in Deutsch­land oder USA der Dreis­siger Jahre, son­dern in Nepal heute. Doch tut sich immer noch nichts! – Zöger­er haben in Locarno keine Chance: Bleib ich sitzen oder geh ich raus? – Das Erstaunliche, je länger man bleibt, umso mehr ver­raucht der Ärg­er über eine solche Zumu­tung: Man mutet sich sel­ber etwas zu, erfind­et Geschicht­en zu den Gesichtern. Das eigene Kopfki­no begin­nt zu sur­ren, find­et in jed­er Gondel seinen Weg auf den Berg eigen­er Weisheit und Erleuch­tung. Bleibt die Frage: Was hat die rät­sel­hafte Jury hon­ori­ert? – Das Kino mit Selb­staus­lös­er in 1000 Köpfen?

Solche Belas­tung­sproben für die Hum­meln zwis­chen dem cinéphilen Aller­w­er-testen und seriellen Plas­tik­stühlen – von wegen Sit­zled­er! – sind aber nicht nur dreiste Appelle an die Kreativ­ität der Zuschauer zur Ent­las­tung ein­fall­slos­er Cineas­t­en: Sie kön­nten mit dem Preis­geld ein Fes­ti­val für Überwachungskam­eras grün­den! Wobei nicht Men­schen, die nichts tun, das Prob­lem sind, son­dern ein Fil­mau­tor, der nichts tut. – Eben­so ärg­er­lich sind Ergüsse, wenn ein Film einen wein­er­lich und sonor zutex­tet wie: E Ago­ra? – Lembra–me (What Now – Remind Me, vgl. auch die aus­führliche Kul­turkri­tik) von Joaquim Pin­to, Por­tu­gal 2013.

Men­schlich­es Leid macht noch keinen Film, so erschüt­ternd es auch ist: Seit 20 Jahren trägt der Regis­seur und Gewin­ner des Spezial­preis­es des Inter­na­tionalen Wet­tbe­werbs nun schon das Aids- und Hepati­tis-C-Virus in sich. In Form eines Tage­buchs monolo­gisiert Joaquim Pin­to über seinen Krankheitsver­lauf und die Retro­viren-Ther­a­pie, welche zwar sein nack­tes Über­leben sichert, aber schwere Neben­wirkun­gen nach sich zieht. Mal wäh­nt man sich in einem medi­zinis­chen Sem­i­nar, dann wieder in ein­er Geschichtsstunde, wobei er diese Pest der Neuzeit seit ihrem Aus­bruch in den 80er Jahren rap­portiert und mit anderen Epi­demien ver­gle­icht. Er erin­nert an promi­nente Opfer, die aus dem öffentlichen Gedächt­nis entschwun­den sind. Nicht nur als Kün­stler und Koryphäen des Geis­teslebens, son­dern auch als Mär­tyr­er ihrer Risiko­gruppe. Soweit so trau­rig. Doch scheit­ert alles Bemühen um inhaltlichen Sprengstoff an der her­metis­chen Intro­ver­sion. Es bedürfte eines neu­tralen Erzäh­lers, zur dynamis­chen Dra­maturgie noch ein­er Aussen­wahrnehmung, um das nur Selb­st­ther­a­peutis­che auch in eine Mit­teilung zu ver­wan­deln, zum gerin­gen Anflug von Filmkun­st. So bleiben mir kaum mehr als Pin­tos Glücksmo­mente haften, seine Hingabe ans unbeschw­erte Hun­deleben.

Wenn doch der Hund des Men­schen bester Fre­und in soviel Leid ist, sieht man ungern auch den treuen Ochsen zerteilt, zer­sägt, gehäutet, aufge­hängt am Spiess: So mag His­to­ria de la meva mort (Sto­ry of my Death) von Albert Ser­ra, E/F 2013) in den wilden Karpat­en stat­tfind­en, unter sinnlich rauschen­den Bäu­men und lock­enden Röck­en – mit einem reich­lich weit herge­holten, durch den Morast gekar­rten Gia­co­mo Casano­va (1725–98) auf Besuch beim Grafen Drac­u­la (1431–77), gefilmt in nicht mehr so neuer Ent­deck­ung der Langsamkeit, wobei die Zeit auch im his­torischen Ver­lauf mis­shan­delt wird. Das eignet sich alles ganz und gar nicht zum Ciné­ma Vérité. Da mögen noch einige wenige philosophis­che Sätze die spär­liche Kon­ver­sa­tion auf­plus­tern, Vam­pire süss­es Jung­mäd­chen­blut aus zarten Nack­en saugen – nein: Dieses Alther­ren­grin­sen reisst den falschen Pathos nicht aus den Bin­sen, ver­rät­selt nur noch mehr: Wofür gibt in Locarno auch die Grand Jury den Gold­en­sten aller Leop­ar­den und sat­te 90’000 Franken her?

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Das Fes­ti­val ist auch ein Schloss

Auf den Spuren all dieser Rät­sel muss man sich den Betrieb eines Fes­ti­vals wie Kafkas «Schloss» vorstellen als – Top Event of Switzer­land – am Lan­gen See. Und wie der Land­ver­mess­er «K» ver­misst man weniger das Land, als das unsicht­bare Geflecht der Beziehun­gen schon am Fusse des Hügels, unter dem Hil­f­sper­son­al dieser Tessin­er Prov­inzs­tadt, geschweige denn im Schweigen ihrer Mauern und Türme. Dabei ver­hal­ten sich die Fes­ti­vals untere­inan­der wie Eli­te­u­ni­ver­sitäten, die sich gegen­seit­ig das Per­son­al abwer­ben oder zur näch­sten Burg weit­erziehen. Manch­mal geht das über Nacht, wie im Vor­jahr der Abgang des kün­st­lerischen Leit­ers Olivi­er Pere zu ARTE France. Ging’s um die Kar­riere, war es Über­druss? Oder Clau­dia Laf­franchi – das beliebteste Gesicht des Fes­ti­vals, auch von RSI (Radiotele­vi­sione Svizzera). Die langjährige Star­mod­er­a­torin musste kurzfristig erset­zt wer­den, weil sie im fer­nen LA Fre­itod geg­ing. Das alles im sel­ben Jahr. Was ist hin­ter den Fes­ti­valkulis­sen wahr? Hin­ter seinen Floskeln ein­er höfis­chen Gesellschaft. Falsch, sagt ein­er, der es wis­sen muss: Die Macht teilen sich einige Clans wie in Schot­t­land im 16. Jahrhun­dert. Lokale Ver­wal­ter, fremde Gestal­ter. Man schiebt sich Sub­ven­tio­nen zu, organ­isiert Empfänge für Spon­soren immer neuer Trost­preise. Um bei der undurch­sichti­gen Ver­gabe der Haupt­preise nicht andere zu vergällen. Denn jed­er weiss, Eit­elkeit macht heiss. Natür­lich sind das nur Ver­mu­tun­gen im Dun­stkreis der Ohn­macht, denn wie soll man da Wahrheit erfahren. – Nur manch­mal blitzt diese auf zwis­chen den Zeilen, sozusagen im Unge­sagten oder verzweifelt Gewagten wie Risse im Boll­w­erk. Land­ver­mess­er «K» ver­sucht auch die Mimik der Offiziellen zu deuten, den ein­dringlichen Blick des ein­samen Fes­ti­val­präsi­den­ten M. S. während sein­er kul­turbeschwören­den Rede zum smarten Kul­tur­vorste­her A. B. aus der Bun­de­shaupt­stadt, der noch mehr Geld sprechen soll. Auch die 5‑fache Erwäh­nung des «Tessins» in einem einzi­gen Satz spricht Bände. Doch mehr Geld wofür? – Noch mehr Trost­preise? Zur weit­eren Auf­blähung des Appa­rats, für die Ali­men­tierung meist Kun­st­fern­er? – Was ist von der Empörung zu hal­ten von des Autors von «Tableau Noir» (CH 2013, vgl. auch die aus­führliche Kul­turkri­tik) – des besten Films des diesjähri­gen Hauptwet­tbe­werbs, der sich auf dem Podest ent­ge­gen der Aben­dregie aus der Opfer­grube seines Herzens offen­barte: Dass man ihm zuerst zu einem Haupt­preis grat­ulierte, was sich als Irrtum erwies. Ein dilet­tan­tis­ches Miss­geschick oder eine Intrige? – Da könne er auch gle­ich auf den «Wisch» ein­er loben­den Erwäh­nung (Spe­cial Men­tion) verzicht­en! – «K» sah, wie die Offiziellen ihr Lächeln wie Hansaplast auf den Mund des so Ent­täuscht­en klebten, damit seine Wunde nicht unter allen Augen weit­er blutete. Doch Pflaster statt Zaster helfen nicht, befördern keinen Film in die Säle, tilgen keine Schulden!

Das Haus des Films

Nun soll auch noch ein bleiben­des Mon­u­ment entste­hen, gewei­ht nicht nur dem flüchti­gen Moment, der Illu­sion von Glanz und Glo­ria, dem Ram­p­en­licht zweier August­wochen, die man hier rund um den Kalen­der vor­bere­it­et in Hin­ter­stuben: Es soll endlich ein richtige «Casa del Cin­e­ma» ihre Pforten öff­nen zu Bürozeit­en und übers ganze Jahr – wenn in der son­nen­re­ich­sten Prov­inz der Schweiz wieder Notare und Anwälte, Steuer­flüchtige und Immo­bilien­speku­lanten ihrem stillen Gewerbe beim Cap­puc­ci­no im Mor­gen­licht und Risot­to ai Funghi am Mit­tagstisch nachge­hen. Ein solch­es Zen­trum ist eine grossar­tige Idee: Es soll nach 70 Jahren Exis­tenz des Fes­ti­vals für die 7. Muse ein Muse­um entste­hen, ein Archiv und Ort für cinéastis­che Ver­anstal­tun­gen, für Ret­ro­spek­tiv­en und The­men­wochen. Es soll als Forschungsplatz dienen, als Ergänzung zur Ciné­math­èque Suisse in Lau­sanne. Damit fände die unrühm­liche Vertrei­bung des Film­fes­ti­vals aus dem leg­endären «Grand Hotel» von Locarno, der Ver­lust sein­er Geschichte und Pat­inà mit­samt den Düften aus dem Park voller Feen und Kobolde – als Auf­gang und Balustrade für Glück­srit­ter des Glam­ours, worin auch ein betören­der Ros­marin­strauch das Palaver von uns Möchte­gerns erdete – sein neuzeitlich­es Hap­py End.

Vorstell­bar ist auch eine Fakultät für Filmwis­senschaft der Uni­ver­sità del­la Svizzera Ital­iana, so wie auch Dim­itris Clown­schule in Ver­scio heute einen akademis­chen Sta­tus und öffentliche Unter­stützung geniesst. Das geplante Haus des Films präsen­tiert sich als Wun­dertüte viel­er Träume und ist zugle­ich die poli­tis­che Nagel­probe, ob es gelingt, Film und Kul­tur generell als exis­ten­ziellen Mehrw­ert, nicht nur als Mar­ket­ingver­anstal­tung fürs lokale Touris­mus­gewerbe in der Bevölkerung zu etablieren. Deren Mehrheit geht nie ins Kino, auch nicht während des Film­fes­ti­vals. Die berühmte abendliche Piaz­za, wo die Granden der Stadt und Region jew­eils patri­o­tis­che Appelle zele­bri­eren, ist in Wahrheit eine Exklave der übri­gen Schweiz und Deutsch­lands – von Mai­land über Zürich bis Berlin. Das Fes­ti­val blieb bei den Lokalen bis ein Fremd­kör­p­er. Deshalb ging das 58 Jahre lang vom Fes­ti­val für cinéphile Diskus­sio­nen und Romanzen (beim Ros­marin­strauch!) genutzte «Grand Hotel» – heute eine Speku­la­tion­sru­ine – an den Krämergeist jen­er Fam­i­lie ver­loren, die bis 1999 einen Bun­desrat stellte, obwohl ihnen schon halb Locarno gehört! – Nicht zu ver­gle­ichen mit Basel, wo 1967 eine ganze Stadt für den Erhalt ihrer Picas­so Bilder kämpfte! – Vielle­icht liegen die Gründe auch ganz anders, vielle­icht sind Film und Kul­tur im Sinne Freuds nur ein Ersatz für fehlende unmit­tel­bare Leben­squal­ität, die hier aus ein­er Gun­st der Natur üppig vorhan­den ist. Eine These, welche das The­ater-fes­ti­val in Avi­gnon sogle­ich wider­legte, das 1946 gegrün­det, ein Jahr älter ist. Jeden­falls zeigen sich beim Vorhaben dieses neuen Fes­ti­valzen­trums für den Film bere­its wieder die Mech­a­nis­men lokaler Strate­gien. Von den Pro­jek­ten der inter­na­tionalen Auss­chrei­bung wurde von der Jury (!) eines der fan­tasielos­es­ten aus­gewählt, um abzu­sich­ern, dass auch ein neues Schloss im Dorf bleibt. Es geht hier kaum je um Visio­nen, son­dern um die Verteilung auch kün­ftiger Pfründe.

Auch die Bewer­bung ein­er qual­i­fizierten Kan­di­datin beim Pro­jek­tleit­er, Anwalt in der Partei, der auch die Stadt­präsi­dentin ange­hört, blieb ohne Antwort. Erst ein Brief an den Präsi­den­ten des Fes­ti­vals, im «Schloss» ist das nur über den Flur, ver­an­lasste diesen Mann mit Herz, bei der Stadt­präsi­dentin nachzuhak­en, was endlich die floskel­hafte Absage erbrachte ein­er film­fer­nen Parteisol­datin. Denn die Kan­di­datin war keine aus den eige­nen Rei­hen. Diese öffnet man nur, wenn es nicht mehr anders geht, um noch höhere Fürsten milde zu stim­men. Franz Kaf­ka: «Der direk­te Verkehr mit den Behör­den war nicht allzu schw­er, denn die Behör­den hat­ten, so gut sie auch organ­isiert sein mocht­en, immer nur im Namen entle­gen­er, unsicht­bar­er Her­ren entle­gene, unsicht­bare Dinge zu vertei­di­gen, während K. für etwas lebendigst Nah­es kämpfte.» (Das Schloss)

Schuld und Unschuld

Wo Macht ist, find­et sich immer auch Schuld. Und in der Ohn­macht lebt noch die Unschuld. Dazwis­chen vol­lzieht sich jed­er All­t­ag als Mis­chung von bei­dem. Was machen aber jene, die mit ihrer Schuld leben müssen? – Einige leben damit recht gut, wie das Beispiel zeigt des ehe­ma­li­gen Invest­ment-Star­bankers Rain­er Voss in Mas­ter of the Uni­verse (Regie: Marc Baud­er, D 2013). Als Kro­nzeuge des Kasi­nokap­i­tal­is­mus in der ersten Dekade unseres Jahrhun­derts plaud­ert er sich sichtlich selb­st­ge­fäl­lig durch eine leer­ste­hende Gross­bank in Frank­furt am Main.

Trotz oder ger­ade wegen dieser lau­ni­gen Non­cha­lance hat seine Beschrei­bung der Zustände in diesem Kasi­no unglaubliche Wucht. Sie schallt wieder von den kalten Wän­den des ver­lasse­nen Glas­turms an Europas ‚Wall­street’ wie ein Echo all jen­er, die hier einst wirk­ten und die Weltwirtschaft beina­he in den Abgrund stürzten. Voss’ Insid­er­wis­sen füllt diese ver­lassene Kathe­drale zur Feier des Geldes wieder mit dem Leben der Trad­er und ihrer Ver­ach­tung fürs Leben. Das Erschreck­en über soviel Leichtsinn ist gross und ver­grössert sich immer mehr durch den her­vor­ra­gen­den Ein­fall des Regis­seurs, die Ästhetik der Leere dieser ent­machteten Hallen als Resul­tat und Spiegel der Sinnleere aller speku­la­tiv­en Geschäfte wirken zu lassen. Aus berufen­em Mund erhal­ten wir einen Abriss der Geschichte der Finanzmärk­te, die sich mit der Ultra­l­ib­er­al­isierung unter Ronald Rea­gan und Mar­garet Thatch­er in den 80er Jahren loslösten von der Real­wirt-schaft. Ent­fes­selt von jed­er Kon­trolle erfan­den die Invest­ment Banken Derivate, Ter­min­wet­ten und Struk­turi­erte Pro­duk­te, von denen sie sel­ber kaum wussten, was sich in deren Struk­tur ver­barg. Oder sie wussten es, und wet­teten in einem weit­eren Pro­dukt, dass es sich beim ersten um Trash han­delt. Das ist, wie wenn Fleis­chhändler wissentlich ver­dor­bene Ware auf den Markt brin­gen, wo es keine Kon­trolleure mehr gibt, und gle­ichzeit­ig darauf wet­ten, dass die ange­priesene Ware ver­dor­ben ist. Ein gigan­tis­ches Betrugssys­tem! Der frühere Finanz- und Rechtsspezial­ist der ABM AMRO sin­niert erstaunlich offen­herzig über die Mit-ver­ant­wor­tung des Einzel­nen am schein­bar Unper­sön­lichen – an der Welt­fi­nanz-krise mit Fol­gen für fast alle – und entzieht sich doch zum Schluss jed­er Haf­tung, als er in seinem Edelschlit­ten mit fleck­en­los weiss­er Weste aus der Garage fährt: Wir wis­sen nun, er brachte sein Ver­mö­gen rechtzeit­ig ins Trock­ene. Da fährt ein ganz Schlauer weg. Denn ein Kro­nzeuge ent­ge­ht nicht nur teil­weise oder ganz der Strafe, er ret­tet auch sein Gewis­sen. Zu Gericht sitzt die Öffentlichkeit über das Medi­um Film und erteilt für die Wahrheit aus erster Hand ihre Abso­lu­tion. – Marc Baud­ers atem­ber­auben­der Doku­men­tarfilm über eine abstrak­te Materie mit realen Fol­gen als Beispiel für mod­er­nen Ablasshan­del mit einem bril­lanten Haupt­darsteller erhielt in Locarno zu Recht den Kri­tik­er­preis von 8000 Franken.

Das Paradies

Macht ist der Unschuld Feind. Mächtige has­sen Unschuldige, weil diese sie an ihren Ver­lust erin­nern – ans ver­lorene Paradies, das man kün­stlich, auch mit allen Mit­teln der Macht nicht wieder her­stellen kann. Die Kon­flik­te sind da am trau­rig­sten, wo Macht unmit­tel­bar auf Ohn­macht, Schuld auf Unschuld trifft.

Wie etwa in ein­er kleinen Land- und Gesamtschule in «La Mon­tagne» auf 1100m Meereshöhe im Neuen­burg­er Jura, die 2007 ihre Tore schliessen musste wegen eines Ver­wal­tungsentschei­ds. Der Sparham­mer häm­merte diesen realu­topis­chen Spiel- und Lern­raum für ein Dutzend Kinder für immer zu. Wo keine Schule ist, ziehen auch die Eltern fort, endet die Zukun­ft ein­er ganzen Land­schaft im Neuen­burg­er Jura.

Machen wir sie noch ein­mal auf für den Film Tableau Noir (Schweiz, 2013, vgl. auch die aus­führliche Kul­turkri­tik) des Waadtlän­ders Yves Yersin, der während 13 Monat­en fast täglich ins­ge­samt 1200 Stun­den Film­ma­te­r­i­al drehte und bis zum bit­teren Ende fort­führte. Bit­ter war auch der Verkauf seines Haus­es, damit dieser wun­der­bare Film über­haupt fer­tiggestellt wer­den kon­nte. Im Mit­telpunkt ste­ht die Aufmerk­samkeit und Zu-wen­dung eines Lehrers für seine Schulkinder, was weit darüber hin­aus­ge­ht, was Bil­dungs­man­ag­er heute als Wis­sensver­mit­tlung ver­sach­lichen. Wir sehen aber nicht nur Gilbert Hirschi als rühri­gen Päd­a­gogen, der mit sein­er Engels­geduld den kleinen «Mon­stren», wie Amerikan­er ihre Kinder beze­ich­nen, Zivil­i­sa­tions-tech­niken beib­ringt als Rüstzeug auf dem Weg in ihr späteres Beruf­sleben. Das sehen wir alles auch, aber noch viel mehr erleben wir den schöpferischen Humor und inneren Reich­tum, den Kinder den Erwach­se­nen aus sich her­aus noch frei mit­teilen. Dass sich die Frage stellt, wer prof­i­tiert in diesem Aus­tausch mehr? – Haut­nah fol­gt der Film ihrem staunen­den Ler­nen und Spiel, der Schlägerei zweier Mäd­chen auf der Kippe zur rohen Gewalt, ohne dass der Lehrer oder die Film­leute ein­grif­f­en. Hirschi ken­nt wohl auch Sum­mer­hill School von A. S. Neill.

Es bedurfte nur dreier Tage, bis die Kinder die stetige Beobach­tung durch die zwei Kam­eras ver­gassen. Auf einen Ton­meis­ter wurde verzichtet, stattdessen jedes Kind mit einem Kopfmikrophon verse­hen. Das machte ihre Gespräche und Emo­tio­nen in der Gruppe noch authen­tis­ch­er, ja span­nungsre­ich wie ein Kri­mi. Als Doku­ment des Wider­stands der Unschuld gegen die aufk­om­mende soziale Kälte und Entsol­i­darisierung in der Gesellschaft, auch gegen einen Staat, der seine Leis­tun­gen zur Förderung der Jugend abbauen muss, weil ihm selb­st die Mit­tel ent­zo­gen wer­den – durch just jene Leute, welche an der Börse immer reich­er wer­den und poli­tisch durch­set­zen, noch weniger Steuern zu bezahlen.

So zeigt der Film kein Hap­py End, stattdessen fliessen Trä­nen. Bei Gross und Klein, Frau und Mann, beim Lehrer, beim Bauer und beim Zuschauer. «Sozial-kitsch» nan­nte dies ein kri­tis­ch­er Kol­lege. In nervte die Natür­lichkeit, die sich gross in Szene set­zt aus kleinem Kinder­witz. Es gibt viele Filme über die Schule. Aber keinen, der so dicht vom Ver­lust unser­er eige­nen Kind­heit han­delt. Im Schlamm am Klön­talersee erfind­en die Kinder von La Mon­tagne noch ein­mal die Welt: Das Bach­bett wird zur Urland­schaft, auch wir sel­ber zu Dinosauri­ern, die sich gegen Tyran­nus Rex behaupten. Was im Leben trau­rig zu Ende geht, bleibt auf der Lein­wand wun­der­bar erhal­ten – die Unschuld.

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Schmutzige Hände

Hände han­deln. Sie sind wie Vis­itenkarten. Deshalb hätte Sangue (Ital­ien 2013) von Pip­po Del­bono in Locarno nicht zur Vis­ite geladen wer­den sollen. Die Ein­ladung zur Teil­nahme im diesjähri­gen inter­na­tionalen Wet­tbe­werb ist kein Ruhmes­blatt für die (poli­tis­che) Sen­si­bil­ität des neuen Direk­tors Car­lo Cha­tri­an. Als Ital­iener hätte er um die Befind­lichkeit­en in sein­er Heimat wis­sen müssen.

Der Tod und wir Zuschauer

Es sind nicht die schmutzi­gen Fin­gernägel des Regis­seurs. Gän­zlich unzu­mut­bar ist dessen Über­griff auf das Ster­ben der eige­nen Mut­ter, die sich noch im let­zten Hauch ihres Lebens zu wehren ver­sucht gegen die Kam­era des Sohns, der sie beim Hin­schied filmt: «Speg­ni­la!» – Er tut es nicht. Bei solch­er Mis­sach­tung des let­zten Wil­lens stellt sich auch grund­sät­zlich die Frage nach der Öffentlichkeit beim noch Leben und schon Tod. Die Antwort darf nur als Respekt aus­fall­en vor dem was ist oder soeben noch war – vor dem Geheim­nis dazwis­chen. Das auch keine Reli­gion zu erk­lären kann. So ist man als Zuschauer dieses ewigen Rät­sels gle­ichzeit­ig fasziniert und fühlt sich doch eben­so als Voyeur des Intim­sten eines Men­schen, von dessen let­ztem Augen­blick – ohne jede Legit­i­ma­tion durch einen per­sön­lichen Bezug. Der Über­griff des Regis­seurs wird zwangsläu­fig auch zum Über­griff des Zuschauers. Man kann sich das auch nicht von der Seele schreiben.

Schon immer ver­suchte die Men­schheit, das Rät­sel des Todes zu enträt­seln, dem Geheim­nis hab­haft zu wer­den, was nicht zu haben ist, weil im Sein oder vielmehr Nicht­sein begrün­det. Das Leben im Moment seines Entschwindens festzuhal­ten. Dafür wurde von promi­nen­ten Ver­stor­be­nen oder ver­mö­gen­den Nachkom­men jew­eils eine Toten­maske erstellt. Inzwis­chen hält die Fotografie das erlosch­ene Anlitz des Men­schen erschwinglich­er fest wie beispiel­sweise Rudolf Schäfers erschüt­ternde Doku­men­ta­tion aus der Berlin­er Char­ité vom «Ewigen Schlaf – Vis­ages de morts.» (Ver­lag Kell­ner, Ham­burg 1983). Doch Pip­po Del­bono geht es kaum um Trans­parenz und Tran­szen­denz, als um die filmis­che Ver­mark­tung seines salop­pen Bruchs eines der let­zten Tabus – des men­schlichen Ster­bens.

Ein Ter­ror­ist ohne Reue

Der kalte Blick auf das Erkaltende – dafür fliesst wohl der Filmti­tel «Sangue» – find­et sich wieder in der Miene des ehe­ma­li­gen Anführers der ital­ienis­chen Rot­bri­gadis­ten, der seinen kalt­blüti­gen (!) Mord eines Unbeteiligten skan­dalös unbeteiligt beschreibt: Gio­van­ni Sen­zani war wohl auch schon ein Mitwiss­er der Ent­führung Aldo Moro’s am 16. März 1978. Der frühere Min­is­ter­präsi­dent galt als Hoff­nungsträger eines «His­torischen Kom­pro­miss­es» in Ital­ien zwis­chen den Eurokom­mu­nis­ten Enri­co Berlinguer’s und den Christ­demokrat­en. Das hätte wohl auch den Kalten Krieg zwis­chen Ost und West einiges früher been­det. Stattdessen wurde Moro ermordet. Bis heute sind die Verbindun­gen zwis­chen den Ter­ror­is­ten, den par­al­lel­staatlichen Geheim­di­en­sten und der Mafia noch nicht aufgek­lärt. Sen­zani kam selb­st aus dem Dun­stkreis des Staatss­chutzes, bevor er den Staat frontal angriff. Seine ide­ol­o­gis­che Verblendung zur Unkul­tur des Has­s­es zeigt Ähn­lichkeit mit dem Abweg Ulrike Mein­hoffs in die deutsche RAF und den Unter­grund nur sinnlos­er Gewalt. Zunächst studierte der spätere Rot­bri­gadist Recht in Bologna und Berke­ley, danach lehrte er aus­gerech­net Krim­i­nolo­gie in Flo­renz und Siena, bis er 1978 abtauchte und seine Blut­spur des ide­ol­o­gisch verk­lärten Ver­brechens hin­ter­liess. Im Juni 1982 wurde er gefasst und zu 17 Jahren Gefäng­nis verurteilt. Wed­er bei sein­er Ent­las­sung 1999, noch in einem Inter­view 2010 zeigte er wirk­liche Reue: «Ich habe nur meine Poli­tik geän­dert, nicht meine Ideen.» – Wie sollen sich Ideen von Tat­en unter­schei­den: Ist das eine nicht der Kopf, die Tat­en Glieder? In «Blut» beschreibt er nüchtern wie ein Buch­hal­ter, Han­nah Arendt nan­nte das «die Banal­ität des Bösen», wie er Rober­to, den Brud­er von Patrizio Peci, eines ‚Pen­ti­to’ (Über­läufers), hin­richtete zur Abschreck­ung für geständ­niswillige inhaftierte Rot­bri­gadis­ten. Wie sie den Ent­führten in einem Gehöft auf den Stuhl fes­sel­ten und er selb­st von hin­ten die Pis­tole zum tödlichen Schuss abdrück­te. Solche Unmen­schlichkeit unter­schei­det sich kaum von der Mafia, welche etwa 14 Ver­wandte des reumüti­gen Tom­ma­so Buscetta umbrachte, dessen Sohn in Salzsäure auflöste. Es gibt für solche Tat­en keine Recht­fer­ti­gung, keine «poli­tis­che», noch fik­tiv bürg­erkriegsrechtliche, auch nicht gegen einen kor­rupten Staat wie Ital­ien während der «Bleier­nen Jahre» mit der Geheim­loge P2 und dem lan­gen Arm der Faschis­ten zu Bombe­nan­schlä­gen mit Dutzen­den von Toten. – Die Frage bleibt ohne Antwort: Bringt Gio­van­ni Sen­zani die Schmauch­spuren seines Mordes je wieder von seinen Hän­den?

Virtuelle und reale Gewalt

Was wären die Voraus­set­zun­gen für eine Ver­söh­nung mit der Gesellschaft, sind es nur die Jahre hin­ter Git­tern? – Was geht in den Augen, in den Gedanken eines in die Irre lei­t­en­den Intellek­tuellen vor? Welche Beweise für Gesin­nungswan­del müssten erbracht wer­den, damit ihm Ange­hörige der Opfer verzei­hen kön­nen? Der in Locarno völ­lig deplazierte Film «Sangue» leis­tet der Sache jeden­falls einen Bären­di­enst, wed­er Reflex­ion noch Abbitte, son­dern ver­harm­lost einen Täter zu einem beina­he san­ften Alten im Kreise sein­er Fam­i­lie am Strand. Das über die Vorgeschichte informierte ital­ienis­che Pub­likum quit­tierte den Film mit Pfif­f­en.

Damit provozierte auch schon die Auswahljury des Hauptwet­tbe­werbs einen Skan­dal. Denn wed­er gehört ein solch­er Film, noch dessen rüde Mach­er und Darsteller ins Ram­p­en­licht eines der Kun­st des Kinos – somit auch der Utopie ein­er besseren Welt – verpflichteten Fes­ti­vals, wenn in der Öffentlichkeit nicht gle­ichzeit­ig eine fundierte Debat­te stat­tfind­et, wenn sich Pro­tag­o­nis­ten nicht unmissver­ständlich von ihrer ver­brecherischen Biografie dis­tanzieren.

Was Hol­ly­woods «schwarze Prinzen» wie etwa Quentin Taran­ti­no als virtuelle Gewal­torgien insze­nieren, um damit frag­würdi­ge Bedürfnisse zu bedi­enen, als Ven­til­funk­tion ein­er let­ztlich repres­siv­en, anti­sol­i­darischen Gesellschaft, wird in «Sangue» von der Real­ität über­holt: Aus der Gau­di an ein­er mord­stech­nis­chen Sus­pense wird schus­sar­tig reale Geschichte, das Leid der Welt.

Fes­ti­val­präsi­dent Mar­co Solari ret­tete die Ehre des Inter­na­tionalen Film­fes­ti­vals von Locarno und set­zte gegen die Irrtümer selb­st­be­fan­gener Jurys ein richtiges Zeichen, als er beim Emp­fang Gio­van­ni Sen­zani den Hand­schlag ver­weigerte: Die Hygiene der Hände ist auch eine des Geistes.

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Artikel online veröffentlicht: 23. August 2013 – aktualisiert am 17. März 2019