Brasilien will mehr als Fussball

Brasil-Töggeli(Von Karl Johannes Rech­stein­er) - Vor der Fuss­ball-WM protestieren viele Brasil­ian­er gegen Armut, Aus­beu­tung und Ras­sis­mus. Die Bern­er Entwick­lung­sor­gan­i­sa­tion Coop­er­ax­ion organ­isiert dazu einen Abend im Korn­haus­fo­rum, samt Fuss­ball-Turnier am Tögge­likas­ten.

Entwick­lung­shil­fe ist ja gut und recht – doch dazu gehören auch his­torische und gesellschaftliche Zusam­men­hänge. Deshalb führt die kleine Bern­er NGO Coop­er­ax­ion nicht nur Entwick­lung­spro­jek­te in Brasilien und im west­afrikanis­chen Liberia, son­dern verbindet ihre Arbeit mit Infor­ma­tio­nen zur Schweiz. Unser Bin­nen­land und beson­ders auch das bernische Staatswe­sen prof­i­tierten näm­lich vom Waren- und Sklaven­han­del über den Atlantik im 18. und 19. Jahrhun­dert.

Brasilien war die let­zte Sklaven­bas­tion. Zu Beginn enteigneten die Kolo­nial­her­ren die indi­gene Bevölkerung und ver­sklavten sie. Die Siedler rode­ten Wald und pflanzten Zuck­er­rohr. Den Indios set­zte die Zwangsar­beit auf den Plan­ta­gen hart zu. Die eingeschleppten Masern- und Pock­en-Epi­demien dez­imierten die indi­gene Bevölkerung. Es fehlte den Gross­bauern an bil­li­gen Arbeit­skräften, um die Nach­frage nach der begehrten Kolo­nial­ware Zuck­er und später nach Baum­wolle befriedi­gen zu kön­nen. Die Schweiz war ein­er der dankbaren Abnehmer dieser Rohstoffe. Die fehlen­den Arbeit­skräfte lieferte der transat­lantis­che Sklaven­han­del. Die Por­tugiesen ver­schleppten 3,5 Mil­lio­nen (!) Afrikan­er – Män­ner, Frauen und Kinder – nach Brasilien. Wagte ein Sklave die Flucht, wurde er mit Hun­den gejagt, einge­fan­gen und hart bestraft. Diejeni­gen, denen die Flucht gelang, grün­de­ten Sied­lun­gen, so genan­nte Quilom­bos im Hin­ter­land, abgele­gen und ver­steckt im Busch. Das Wort Quilom­bo stammt aus der Ban­tu-Sprache Ango­las und ste­ht für Nieder­las­sun­gen von Nomaden oder Ver­triebe­nen. Für die Sklavin­nen und Sklaven Brasiliens ver­hiess das Wort Hoff­nung auf Frei­heit.

Das bekan­nteste Quilom­bo im Kampf um soziale, poli­tis­che, kul­turelle und wirtschaftliche Frei­heit war Pal­mares. Von cir­ka 1600 bis zur gewalt­samen Zer­schla­gung durch die Por­tugiesen 1695, fan­den Sklaven und Ver­triebene ander­er Eth­nien Zuflucht in der «Repub­li­ca Pal­mares». Zumbi, der let­zte Anführer Pal­mares’ wurde am 20. Novem­ber 1695 geköpft. Sein Todestag wird heute als Tag des Schwarzen Selb­st­be­wusst­seins (Dia da Con­sciên­cia Negra) gefeiert. Zumbi wurde zum Held der afro-brasil­ian­is­chen Men­schen­rechts­be­we­gung des 20. Jahrhun­derts. «In der Grund­schule lern­ten wir, dass unsere Mul­ti­kul­ti-Gesellschaft und die propagierte „Democ­ra­cia racial“ (gle­iche Rechte für alle Rassen) in der Aufhe­bung der Sklaverei und der Tra­di­tion der Quilom­bos begrün­det ist», berichtet Izabel Bar­ros, Projekt­verantwortliche bei Coop­er­ax­ion mit brasil­ian­is­chen Wurzeln. Quilom­bos stün­den für Wider­stand, gle­iche Rechte oder für Brasilien als Schmelztiegel. Diesem Mythos ste­ht aber das Bild der Nor­mal­bürg­er gegenüber – für diese sind die in den Quilom­bos leben­den Quilom­bo­las schlicht und ein­fach schwarze, unge­bildete, faule Bauern… Izabel Bar­ros find­et es deshalb notwendig, die Lebens­be­din­gun­gen der Quilom­bo­las zu verbessern. Zur Zeit wehren sie sich zusam­men mit den wegen der Fuss­ball-WM Zwangsver­triebe­nen und anderen Bewe­gun­gen gegen die Armut und Aus­beu­tung in Brasilien. Die Men­schen brauchen mehr als Fuss­ball.

Die Quilom­bo­las kämpfen ums Über­leben. Mehrstündi­ge Schul­wege über Flüsse und unwegsame Pis­ten, Kranken­trans­porte auf Hänge­mat­ten und kaum Verdienst­möglichkeiten – das ist die Real­ität der Quilom­bo­las. «Bil­dung ist der Schlüs­sel zur Entwick­lung. Jugendliche soll­ten ein Handw­erk ler­nen kön­nen», erk­lärt Izabel Bar­ros. Staats­bürg­er­liche Aufk­lärung sei auch nötig, denn die Poli­tik­er ver­sprächen das Blaue vom Him­mel. Quilom­bo­las kön­nten sich keine gute Mei­n­ung bilden: «Sie wis­sen nicht, wie der Staat funk­tion­iert, um beispiel­sweise Lan­drechte einzu­fordern und zu sich­ern.» Land das sehr begehrt ist, denn anstelle der Zuck­er­plan­ta­gen treten heute Biokraft­stoff-Plan­ta­gen. Brasilien schaffte erst 1888 als let­ztes Land die Sklaverei ab. Heute noch pflanzen, kochen und handw­erken Quilom­bo­las wie einst ihre afrikanis­chen Vor­fahren. Ein Leben voller Ent­behrun­gen fern ab von roman­tis­chen Vorstel­lun­gen.

Fre­itag, 8. Novem­ber 2013, ab 17 Uhr

Brasilien 2014:
Ein infor­ma­tiv-sportiv­er Abend im
Korn­haus­fo­rum Bern

Ab 17 Uhr: Töggeli-Cup und Häp­pli brasileiro
Tis­ch­fuss­ball-Turnier in Zweierteams, Teamge­bühr Fr. 10.-, Anmel­dung via Face­book oder info@cooperaxion.org, Café-Bar mit brasil­ian­is­chen Köstlichkeit­en und Knab­bereien
19 Uhr: Die schwarzen Spuren Brasiliens
Vom transat­lantis­chen Sklaven­han­del bis zu den Protesten gegen die WM, mit Karl Johannes Rech­stein­er, Präsi­dent von Coop­er­ax­ion
20 Uhr: Brasilien will mehr als Fuss­ball
Der Kampf für Lan­drechte und gegen Ras­sis­mus – wie sich die schwarze Bevölkerung wehrt, mit Izabel Bar­ros, Pro­jek­tver­ant­wortliche von Coop­er­ax­ion

Ein­tritt Fr. 10.– oder mehr, Infos: www.cooperaxion.org

Artikel online veröffentlicht: 1. November 2013 – aktualisiert am 17. März 2019