Skizze einer Hauptstadtzeitung

(Con­stan­tin Seibt) —

Unter #tag2020 lief in den let­zten Wochen eine Spiegel-Debat­te, wie eine Reg­o­nalzeitung über­leben kön­nte. Dieser Tage stellt der Spiegel-Redak­teur Cordt Schnibben einen Pro­to­typen vor. Ich habe ihn gese­hen und finde seine Lösung ele­gant.

Als Ergänzung hier eine (noch rohe) Skizze für den Lokalteil ein­er Zeitung für eine grosse Stadt.

Nehmen wir etwa Zürich. Es ist für Ankömm­linge keine wirk­lich fre­undliche Stadt. Die ersten drei Jahre fühlte sich jedes Bier in ein­er Szenebar an, als würde man in einem tex­anis­chen Saloon ein Glas Milch bestellen. Meis­tens begrüsste einen Schweigen, im besten Fall knur­rte jemand: «Woher chun­sch?» (Woher kommst du?) Und das war nicht als Frage gemeint, son­dern als Urteil.

Dies war in Bern oder St. Gallen ganz anders. Hier schienen die Leute in den Szenebeizen ehrlich erfreut, einen Frem­den zu sehen. Sie stell­ten sog­ar Fra­gen. Nach einem Abend fühlte man sich dort mehr zu Hause als in Zürich nach einem Jahr.

Das Auf­fäl­lige an Zürich ist, dass die Stadt keinen Lokalpa­tri­o­tismus ken­nt. In Basel, Bern oder Luzern sprechen fast alle Leute mit Lei­den­schaft über ihre Stadt, auch wenn sie sie ver­fluchen. In Zürich inter­essiert sich kein Men­sch für Zürich. Das deshalb, weil Zürich als Stadt  gross genug ist, um wahr genom­men wer­den zu müssen. Zürich ist das Zen­trum von fast allem in der Deutschschweiz, auss­er von Poli­tik und Ver­wal­tung. Wer etwas im Leben will, in den Medi­en, den Banken, der Kun­st, dem The­ater, der Wer­bung, der Uni­ver­sität, der Mode oder im Milieu zieht nach Zürich. Kurz: Zürich ist die Haupt­stadt der Schweiz, auch wenn im Lexikon ste­ht, dass das Bern ist.

Völ­lig zu Recht ist Zürich ist im Rest des Lan­des scheel ange­se­hen. Denn Zürich ist mehr eine Hal­tung als ein geo­graphis­ch­er Ort. Man wird nicht dort geboren, man zieht hin. Es ist die Stadt des Ehrgeizes.

Deshalb zer­fällt Zürich auch in Szenen. Im Gegen­satz zu Bern, Basel, St. Gallen oder Win­terthur, wo etwa die Aussen­seit­er ver­gle­ich­sweise wenig Möglichkeit­en haben und sich in den gle­ichen drei, vier Lokalen tre­f­fen wie ein Wan­derzirkus, zer­fällt Zürich in sich selb­st konkur­ren­zierende Milieus. In St. Gallen müssen Punk und Hip­ster in die gle­iche Bar. In Zürich gibt es mehrere Punkszenen, die sich gegen­seit­ig mehr ver­ab­scheuen als alle Kar­ri­eris­ten.

Kein Wun­der, ver­gle­ichen sich Zürcher gern mit New York oder Berlin. Zwar ist die Stadt eine Liga prov­inzieller. Aber die Mech­a­nis­men sind ähn­lich. Der Ton in Zürich ist härter als im Rest des Lan­des. Ankömm­linge wer­den erst­mal ignori­ert. Sie müssen sich beweisen. Und auch bei Erfol­gen hält man instink­tiv Dis­tanz. Denn die Konkur­renz schläft nie.

Deshalb sind Zürcher wenig an der Stadt selb­st inter­essiert: an Par­la­ment, Stad­trat, Baustellen, Gebäu­den, dem Image von Zürich. Wesentlich vitaler ist für sie, was in der eige­nen Sub­gruppe geschieht – wer dort auf- und absteigt, was heiss­er Stoff und was Kaf­fee von Gestern ist. Hier tick­en die Kad­er im Grosskonz­ern und die ille­galen Sprayer völ­lig gle­ich.

Für die Zeitung in ein­er solchen Stadt bedeutet das, dass sie ver­schärft das­selbe Prob­lem hat, das tra­di­tionelle Medi­en durch das Inter­net alle haben. Das Pub­likum ist keine bre­ite, am sel­ben inter­essierte Masse mehr; es ist in Inter­es­sen­grup­pen zer­split­tert. Was für ein Massen­medi­um heisst, dass man es zusam­men­su­chen muss wie ein zer­broch­enes Glas.

Jour­nal­is­tisch lohnende Szenen (und ihr drama­tis­ches Poten­zial) wären etwa fol­gende:

  • Kun­st­szene (Eine harte, erstaunlich hier­ar­chis­che Szene, in der nur wenige Kün­stler das grosse Geschäft machen; kein Wun­der herrschen viel Oppor­tunis­mus, Angst und Neid. Man darf nur wenig Fehler machen, son­st bleibt man Ama­teur. )
  • Film- und The­ater­szene (Sie zer­fällt in die etablierte und die freie Szene; erstere oft bürokratisch, let­ztere mit oft prekären Arbeitssi­t­u­a­tio­nen. Und in zwei Ästhetiken: die Älteren arbeit­en als Kinder der Post­mod­erne mit Ironie, die junge Garde antwortet mit ein­er neuen Ern­sthaftigkeit.)
  • Banker­szene (Eine Welt unter Druck. Top-Banker laden, wie man hört, aus Scham keine Nicht-Banker mehr in ihre Villen ein, weil sie zu gross sind. Die kleinen Händler und Sach­bear­beit­er fürcht­en Ent­las­sung. Die Mar­gen sinken und die Spitzen­leute sind gelähmt durch Sprach- und Ideen­losigkeit.)
  • Medi­en­szene (Inter­es­sant durch ein grausames Exper­i­ment: Was tun die Spezial­is­ten für das Neue, wenn es kommt?)
  • Intellek­tuel­len­szene (Das Bestechende an der Berichter­stat­tung über die Intellek­tuel­len­szene wäre, dass man sie dazu erst erfind­en müsste. Denn es gibt sie längst nicht mehr – nur kluge Köpfe, über­all verteilt. Diese kön­nte eine Redak­tion sys­tem­a­tisch suchen, sam­meln, befra­gen, schreiben lassen, an einen Tisch set­zen – die Zeitung kön­nte zum Salon des 21. Jahrhun­derts wer­den. Wer son­st?)
  • Poli­tik­szene (Ist längst nicht mehr so mächtig wie einst. Aber immer noch die einzige verbindliche Instanz für alle Bewohn­er.)
  • Expat-Szene (Deutsche, Angel­sach­sen, Russen fluten die Stadt – wer sind sie? Jeden­falls haben diese keine Plat­tform. Obwohl sie im Zen­trum des Inter­ess­es auch der Schweiz­er ste­hen.)
  • Werbe-Szene (Teilt das para­doxe Schick­sal fast aller Kom­mu­nika­tions­branchen: Ihre Leute ver­suchen Auf­fäl­liges zu pro­duzieren und bleiben dabei anonym. Weshalb sie sich gegen­seit­ig Preise ver­lei­hen müssen. Das Inter­es­sante an ein­er kom­peteten Werbe-Berichter­stat­tung für eine Zeitung wäre, dass diese natür­lich die besten Kun­den sind. Und im Zweifel dort Inser­ate schal­ten, wo sie selb­st lesen.)
  • Nachtclub‑, Par­ty- und Gas­troszene: (Die die klas­sis­chen Lokalun­ternehmer, immer auf der Suche nach Cool­ness.)
  • Das Milieu (Eigentlich eine Geschicht­en­mas­chine par exel­lence.)
  • Jus­tizszene (Anwälte, Richter, Polizei – die wahren Prof­i­teure des Ver­brechens. So wie beim Gol­drausch vor allem die Leute reich wur­den, die den Gold­gräbern Alko­hol und Aus­rüs­tung verkauften.)
  • Konz­erne (Eine Welt der Grabenkämpfe um Bud­gets und Kar­ri­eren. Grosse Konz­erne, die Flag­gschiffe der Mark­twirtschaft, sind intern oft riesige, fast sow­jetisch kom­plexe Bürokra­tien. Kleine Staat­en im Staat.)
  • Infor­matik- und Inge­nieurszene (Was treiben die Nerds? Immer­hin regieren sie die Welt mit ihren Robot­ern und Com­put­ern in Uni­ver­sitäten und Tech-Buden.)
  • Gesund­heitsszene (Schon über 10 Prozent aller Erwerb­stäti­gen ver­sucht die restlichen 90 Prozent zu repari­eren. Und ihr Anteil wächst und wächst.)
  • Kinderkriegerszene (Eltern ver­schwinden in ein­er Par­al­lel­welt aus Spielplätzen, Parks, Badeanstal­ten. Sind immer in der Gefahr, zu verblö­den, schlicht weil ihr Leben Effizienz ver­langt – und Effizienz nichts anderes bedeutet, als vorher schon zu wis­sen, was bei ein­er Sache her­auskommt. Haben keine Zeit zum Bum­meln und Nach­denken. Sind also anfäl­lig für Kom­pak­terken­nt­nisse.)
  • Anar­chis­ten­szene (Wer sind die frechen Jungs und die ener­gis­chen Mädels von heute – also die Chefs von mor­gen?)
  • Musik­szene (Seit jeher so gnaden­los entspan­nt wie ehrgeizig.)
  • Sport­szene (Die ganze Welt der kör­per­lichen Fit­ness, geisti­gen Gesund­heit und glück­lich­er Hor­mone, die ich lei­der nie ken­nen gel­ernt habe.)

Hier sitzt unser Pub­likum. Oder genauer: Hier lebt, hier lei­det, hier plant, hier kämpft es. Und deshalb muss eine städtis­che Zeitung ihr Kerngeschäft nach ihrer Leser­schaft organ­isieren. Nicht durch Anbiederung, son­dern durch das, was sie kann: Neugi­er, Frech­heit, Recherche. Sie muss für Fis­che wie Haifis­che der einzel­nen Milieus unverzicht­bar wer­den.

Die  meis­ten Grosstadtzeitun­gen sind im Lokalen falsch organ­isiert. Sie sind aufgeteilt in einen poli­tis­chen und einen nicht­poli­tis­chen Teil und nach Geo­gra­phie. Aber das ist nicht mehr die Welt ihrer Kun­den. Deshalb bräuchte die Zeitung Kor­re­spon­den­ten in den einzel­nen Szenen, so wie sie Kor­re­spon­den­ten im Par­la­ment oder im Aus­land hat. Diese müssten die Fra­gen beant­worten: Wer steigt auf, wer ab? Warum? Was ist ange­sagt, was nicht, wo die blind­en Fleck­en? Was wird in den Fach­magazi­nen disku­tiert, was passiert im Aus­land oder im Netz Wichtiges für die einzel­nen Szenen?

Kurz: Eine Zeitung muss in den einzel­nen Wel­ten der Stadt sys­tem­a­tisch Kom­pe­tenz auf­bauen. Um respek­tiert, gefürchtet, gehas­st, geliebt und vor allem disku­tiert zu wer­den. Dazu beste­ht eine gute Chance. Denn alle  Szenen ein­er grossen Stadt sind Wel­ten des Ehrgeizes – und im Rat­ten­ren­nen ist schnelle Infor­ma­tion über dessen Regeln unbezahlbar. Schafft die Zeitung es, in einem Milieu gut genug zu wer­den, um scharfe Kri­tik, amüsan­ten Klatsch, echte Kon­tro­ver­sen hinzubrin­gen und von Zeit zu Zeit sog­ar die Profis zu über­raschen, ist ihr Geschäft gemacht. Es muss schlicht ein Kar­ri­er­e­nachteil wer­den, die Zeitung nicht zu lesen.

Das wichtig­ste an der Berichter­stat­tung – egal ob über die Banker oder die Anar­chis­ten­szene – ist Regelmäs­sigkeit. Einzelne Aus­flüge oder Artikel sind sinn­los. Nur die organ­isierte Recherche zählt. Ohne Regelmäs­sigkeit erlangt man wed­er Kom­pe­tenz, noch Glaub­würdigkeit.

Und gle­ichzeit­ig hat man damit die Chance, dass sich das bre­ite Pub­likum plöt­zlich für das Milieu zu inter­essieren begin­nt: Denn jedes Pub­likum inter­essiert sich für das, was es ken­nt. Was natür­lich heisst: Etwas, was es ken­nen­gel­ernt hat. Nichts macht süchtiger als Fort­set­zungs­geschicht­en.

Das Ziel ein­er Grossstadtzeitung wäre es also, ihre Stadt als das zu por­traitieren, was sie ist: eine taffe, dynamis­che, hart arbei­t­ende, frag­men­tierte Mas­chine. Ein elek­trisieren­des, nervös­es, ehrgeiziges Mini-New-York. Keine lokale Angele­gen­heit, son­dern der Welt eng durch Geschäfte, Angst, Sehn­sucht, Inter­net und der ewigen Jagd nach Cool­ness ver­bun­den.

Kurz: Eine Zeitung, die die Leute so aufregt wie ihr Leben selb­st.

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Artikel online veröffentlicht: 6. September 2013 – aktualisiert am 17. März 2019